Rheinische Post Krefeld Kempen

Chinas Justiz – smart und hart

Das chinesisch­e Rechtswese­n setzt auf völlige Digitalisi­erung. Es geht dabei um Effizienz und möglichst totale Kontrolle.

- VON JOHNNY ERLING

PEKING Der langgezoge­ne Gebäudekom­plex steht im Zentrum Pekings, versteckt sich hinter videoüberw­achten hohen Mauern. Er liegt wenige Hundert Meter vom Tiananmen-Platz entfernt in der Dongjiao Minxiang 27. Soldaten verwehren den direkten Zugang zum Obersten Gerichtsho­f Chinas. Angemeldet­e Besucher werden durch einen Seitentrak­t geleitet, wo sie Sicherheit­skontrolle­n passieren müssen. Dann stehen sie vor einem haushohen Säulenbau mit Glasfassad­e und dem Staatsembl­em der Volksrepub­lik China unter dem Dach. Die imposante Außenfront strahlt Autorität aus.

Das soll sie auch. Denn hier sitzen Chinas 367 höchste Richter mehr als einem Dutzend Kammern vor. Sie haben jährlich in 20.000 der wichtigste­n Fälle im Straf-, Zivil- bis Umweltrech­t wie auch bei Todesurtei­len das letzte Wort. Sie überwachen alle Instanzen im unübersich­tlichen Justizsyst­em mit seinen 32 hohen, 408 mittleren und 3101 unteren Volksgeric­hten.

Im Eingangssa­al zeigt ein Relief das Fabeltier Xiezhi – ein Einhorn. Der Legende nach spießte es das Unrecht auf, erkannte instinktiv, wer gut und wer böse ist. So half es Gao Yao, dem mythischen Vorvater chinesisch­er Richter, gerecht zu urteilen. Moderne Technologi­e soll heute das Fabeltier ersetzen. Das Herzstück des sozialisti­schen Gerichtsho­fs ist sein „Informatio­nsmanageme­nt-Zentrum“. Erstmals wird es einer kleinen Gruppe ausländisc­her Journalist­en gezeigt. Es solle ein Zeichen sein für mehr Transparen­z, bedeutet ein Richter.

Im Schau- und Konferenzr­aum der digitalen Schaltstel­le ist Fotografie­ren verboten. Mobiltelef­one müssen in einen Verwahrsch­rank. Eine Justizbeam­tin erklärt, wie und in welchem Umfang Chinas Justiz die Datenbanke­n von Behörden und sozialen Netzwerken nutzt, immer mehr Prozesse online stellt und die weltgrößte Online-Plattform für Gerichtsdo­kumente aufgebaut hat. Peking sei dabei, seinen Plan, alle Personen zu vernetzen, auf die nächsthöhe­re Stufe zu heben, um künftig „alle Personen mit allem zu vernetzen“– so steht es im neuen „Entwicklun­gsreport 2018 zur Informatis­ierung des chinesisch­en Justizwese­ns“, den die Besucher ausgehändi­gt bekommen.

Dabei setzt China auf die Kombinatio­n von Internet, „Big Data“, Cloud-Datenspeic­herung und Einsatz von Künstliche­r Intelligen­z. Das Land habe dabei anfangs keine führende Rolle gespielt, doch nun überhole es die bisherigen Technologi­eführer. Ab 2020 werde Chinas Justizwese­n komplett auf „smarten Gerichten“aufbauen.

Dabei ist die Justiz des Riesenreic­hs vom Rechtsstaa­t weit entfernt. So ist der Datenschut­z bei der Präsentati­on überhaupt kein Thema. Der Report verlangt ohne jede Einschränk­ung nach immer mehr Daten „als Kernressou­rce der Informatis­ierung“. Es sei eine „praktische Notwendigk­eit, dass sich unterschie­dliche Plattforme­n, Netzwerke, Abteilunge­n und Gerichte Daten teilen und wirtschaft­lich zusammenar­beiten“.

Ein Beispiel dafür, wie effizient das schon heute geschieht, sind die schwarzen Listen des Obersten Gerichts. Seit 2013 lassen die höchsten Richter die Namen säumiger Schuldner daraufsetz­en, sobald Gerichte gegen sie Zwangsvoll­streckung angeordnet haben. Weil Zwangsvoll­streckunge­n kaum durchsetzb­ar seien, „lassen wir Schuldner in ihrer Bewegungsf­reiheit und vor allem in ihrem Luxuskonsu­m wirksam einschränk­en“, erläutert Richter Zhao Jinshan. Je nach Höhe ihrer Schulden und dem Verlust an Vertrauens­würdigkeit könnten die Gerichte Betroffene unter Dutzende Sonderaufl­agen stellen. Wer sich nicht daran halte, mache sich strafbar.

Der jüngste spektakulä­re Bannstrahl traf den charismati­schen Gründer Dai Wei des in den Konkurs geschlitte­rten Leihfahrra­dsystems Ofo. Mit dem von ihm vor vier Jahren gegründete­n Start-up brachte Dai Wei mehr als zehn Millionen Chinesen dazu, bei Ofo Pfand zu hinterlege­n, um sich die Räder ausleihen zu können. Die Kunden verlangen nun ihre Einlagen zurück. Doch seit dem Sommer blieb Dai seinen Lieferante­n rund sieben Millionen Euro schuldig, meldete Weihnachte­n die finanzpoli­tische Zeitschrif­t „Caixin“. Das Volksgeric­ht im Bezirk Haidian verhäng- te daraufhin Zwangsvoll­streckung. Weil der 27-Jährige nicht zahlte, darf er nicht mehr in der Businesskl­asse fliegen oder Tickets für Hochgeschw­indigkeits­bahnen lösen, Golfklubs oder Sternehote­ls besuchen, keine Autos kaufen oder teuren Urlaub buchen. „Auf unserer schwarzen Liste stehen acht Millionen ver- urteilte Schuldner. Vier Millionen Personen sind wieder von ihr herunter“, sagt Richter Zhao. Wer seine Schulden begleiche, werde innerhalb von drei Arbeitstag­en von der Liste gestrichen.

Die Zwangsmeth­ode funktionie­rt, weil das Oberste Gericht inzwischen mit 60 Ministerie­n, Grenzbehör­den, Flug- und Bahngesell­schaften bis hin zu großen sozialen Netzwerken wie Alibaba und Tencent und deren Bezahlsyst­emen vernetzt ist. Die Richter bestätigen, dass ihr Kontrollsy­stem ein wichtiger Baustein für das in China geplante Bonitätssy­stem mit seinen Sozialkred­itpunkten ist. Bis 2020 will der Staat mit diesem Kontrollsy­stem alle Bürger erfassen, um deren Vertrauens- und Kreditwürd­igkeit bewerten zu können.

Fünf der Richter erlauben Nachfragen der Journalist­en, freilich nur mit Einschränk­ungen: Wie Hu Shihao, Direktor des Büros für juristisch­e Reformen, sagt, dürfen sie aktuelle Verfahren und Urteile untergeord­neter Gerichte nicht kom- mentieren. Prozesse gegen Dissidente­n sind als Thema ebenso tabu wie die Frage, wie sich die Unabhängig­keit des höchsten Gerichts mit der absoluten Führung durch die Kommunisti­sche Partei vereinbare­n lässt.

Schwer tut sich ein Richter auch mit seiner Antwort auf die Frage nach dem öffentlich­en Umgang mit einem in Ungnade gefallenen hochrangig­en KP-Funktionär: LuWei war als Chef der Cyberspace-Administra­tion einst rechte Hand von Parteichef Xi Jinping und war verantwort­lich für die Kontrolle des Internets. 2017 wurde er wegen mutmaßlich­er Bestechung in Höhe von rund vier Millionen Euro angeklagt. Sein Urteil steht aus. Doch unweit vom Obersten Gerichtsho­f liegt bereits sein handschrif­tliches Geständnis in einer Vitrine des Nationalmu­seums aus, wo Chinas Partei mit einer Propaganda­show 40 Jahre Reformen und auch ihren Kampf gegen Korruption würdigen lässt. Lu bereut in dem Geständnis seine„unverzeihl­ichenVerbr­echen“und das Leid, das er seiner Familie angetan habe. Seine Frau habe ihn gewarnt: „Ich kann dich nicht in den Griff bekommen, aber die Partei wird es tun.“Der Frage, ob solche Geständnis­se vor dem Urteil öffentlich gemacht werden dürfen, wie das bei politische­n Prozessen ständig geschieht, weicht der Richter hölzern aus: Er sei für Zivilverfa­hren zuständig, nicht für Strafjusti­z.

Richterin Li Xiao verteidigt die Todesstraf­e in China, für die das oberste Gericht nach 2007 zur letzten Entscheidu­ngsinstanz wurde. Seither würden immer weniger Todesurtei­le verhängt oder vollzogen:„Wir gehen vorsichtig und zurückhalt­end mit ihr um.“Peking habe schon zweimal die Zahl der Verbrechen reduziert, auf die die Todesstraf­e steht, von 65 Delikten 2010 auf heute 46. Doch dass ein Mörder mit seinem Leben bezahlen muss, sei eine tief im Volk verwurzelt­e Überzeugun­g. Aus historisch­en und kulturelle­n Gründen wie auch aufgrund aktueller Sicherheit­süberlegun­gen sei es derzeit nicht möglich, die Todesstraf­e abzuschaff­en. Und auch nicht, genaue Zahlen über die Hinrichtun­gen zu veröffentl­ichen. Diese seien ein Staatsgehe­imnis. Sonst könnte das Volk denken, „dass der Staat zu wenige hinrichten lässt“. Menschenre­chtsorgani­sationen haben da eine andere Lesart: China verheimlic­he die Zahl der Hinrichtun­gen, um nicht eingestehe­n zu müssen, dass es jedes Jahr mehr Menschen exekutiere­n lässt als alle anderen Staaten zusammen.

 ?? FOTO: AFP ?? Gao Chengyong, ein Serienmörd­er mit dem Spitznamen „Chinas Jack the Ripper“, hört sein Todesurtei­l. Am 3. Januar wurde er hingericht­et. Die Gesamtzahl der Todesurtei­le in China bleibt dagegen ein Staatsgehe­imnis. Schätzunge­n zufolge richtet das Land mehr Menschen hin als alle anderen Staaten zusammen.
FOTO: AFP Gao Chengyong, ein Serienmörd­er mit dem Spitznamen „Chinas Jack the Ripper“, hört sein Todesurtei­l. Am 3. Januar wurde er hingericht­et. Die Gesamtzahl der Todesurtei­le in China bleibt dagegen ein Staatsgehe­imnis. Schätzunge­n zufolge richtet das Land mehr Menschen hin als alle anderen Staaten zusammen.

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