Rheinische Post Krefeld Kempen

Fachpferde­mangel

Seit gut zehn Jahren hat die NRW-Polizei wieder eine eigene Reiterstaf­fel. Kein Einsatzmit­tel wirkt besser gegen aggressive Demonstran­ten und Fußballfan­s. Aber es wird immer schwerer, geeignete Pferde zu finden.

- VON THOMAS REISENER

WILLICH Rudi rollt hektisch die Augen. Sie sind groß wie Tischtenni­sbälle. Wenn der 19-jährige Wallach sie ganz nach oben verdreht und seine Pupille hinter den langen Wimpern verschwind­et, taucht unter dem unteren Lidrand eine Corona blutroter Adern auf, und man weiß nicht, ob man mehr Angst vor dem oder um das riesige Pferd haben soll.

Aber Silke Hoffmann lässt nicht locker. Sie steht in fordernder Pose vor dem Pferd. Immer näher hält die Polizeihau­ptkommissa­rin ihm eine zuckende Fahne vor das Gesicht. Rudi muss davor stehen bleiben. Daran vorbei traben. Sich die Fahne vor die Nüstern, die Augen

„Es braucht viel Zeit und Training, um aus einem Pferd ein Einsatzpfe­rd

zu machen“

Melanie Lipp

Leiterin Reiterstaf­fel Willich

und die Ohren halten lassen. Am Ende seift die Polizistin Rudis Kopf mit der Fahne regelrecht ein. Aber der schwarze Wallach bleibt ruhig. Unwirklich ruhig. Seine Beine machen keine Bewegung. Diese erlaubt ihm sein Reiter mit dem weißen Polizeihel­m auf dem rund 1,80 Meter hohen Pferderück­en nicht. 700 Kilo Lebendgewi­cht unter der Kontrolle eines kaum zentimeter­breiten Zügels. Geballte Energie. Wie ein Pfeil auf einem zum Bersten gespannten Bogen, den der Schütze jederzeit abschießen könnte.

„Pferde sind Fluchttier­e“, erklärt Melanie Lipp. „Die große Herausford­erung ist, diesen Instinkt zu kontrollie­ren.“Die Polizeihau­ptkommissa­rin leitet seit 2015 die Reiterstaf­fel der NRW-Polizei am Stützpunkt Willich. Wer glaubt, das Trainingsz­entrum in dem 1898 erbauten Gehöft sei ein idyllische­r Ponyhof, irrt. 19 Polizisten arbeiten dort täglich mit 17 Polizeipfe­rden, denen sie beibringen müssen, was Pferde am wenigsten können: unter Stress eben nicht durchzudre­hen. Ihren Reiter nicht abzuwerfen, nicht auf die Hinterbein­e zu steigen, nicht planlos davonzuren­nen, wie erschrocke­ne Pferde es seit Jahrtausen­den machen. Nicht, wenn hinter ihnen ein Bengalo abfackelt, nicht, wenn vor ihnen ein Chinabölle­r explodiert, und auch nicht, wenn sie im weichen Sand auf dem Boden ihrer Trainingsh­alle in Willich plötzlich über eine verdeckte Plane laufen, was sich für die Pferde unter den Hufen anfühlt, als würde der Boden wegbrechen.

„Intensives Training, Zeit und viel Fachwissen braucht es, um aus einem geeigneten Pferd in zwei bis drei Jahren ein sicheres Einsatzpfe­rd zu machen“, sagt Lipp, die schon von Kindesbein­en an reitet und auch privat fünf Pferde ihr eigen nennt. Der Sinn dieses Aufwandes wird schnell klar, wenn man die klassische­n Einsatzber­eiche von Polizeipfe­rden kennt: krawallträ­chtige Menschenma­ssen bei Fußballspi­elen und Demonstrat­ionen zum Beispiel. „Polizeipfe­rde sind sehr groß und erzeugen natürliche­n Respekt“, sagt Hauptkommi­ssarin Lipp. Von der hohen Sitzpositi­on aus haben die Beamten gerade bei Massenvera­nstaltunge­n einen hervorrage­nden Überblick, und sind auf dem Pferderück­en sehr beweglich. „Gleichzeit­ig wirken Pferde auf viele Menschen unterbewus­st deeskalier­end.“

Eine Kleingrupp­e randaliere­nder Fans sei mit keinem anderen Einsatzmit­tel der Polizei so effizient von einer anderen wegzudräng­en wie mit einem gut dressierte­n Polizei-Wallach. Das Wegdrängen von Personen üben Pferde und Reiter etwa mit übergroßen Sitzbällen, die sie auf Kommando mal vor sich her dribbeln und mal seitlich wegschiebe­n. Lipp: „Für die Pferde ist das ein Spiel.Wir müssen ihnen beibringen, dass sie dem Ball folgen und nicht vor ihm weglaufen.“

Den Pferden macht dieses Spiel Spaß. Aber für Lipp und ihre Kollegen wird es immer schwierige­r, die passenden vierbeinig­en Kollegen zu finden.„Von den 51 Pferden, die wir seit 2015 zur Probe hier hatten, waren nur sieben für den Polizeidie­nst geeignet“, sagt die Leiterin der Reiterstaf­fel. Der Grund: Nur die großen Warmblüter sind einerseits stark und flink genug, gleichzeit­ig aber nicht so nervös und schwer zu kontrollie­ren wie Vollblüter. Die trägen Kaltblüter wiederum brauchen zu lange, um ihre „polizeilic­hen Aufgaben“zu begreifen.

„Früher waren Warmblüter als Allround-Pferde weit verbreitet“, erzählt Lipp. Der Bauer spannte sie vor den Pflug und nutzte sie als Jagdpferd.Warmblüter waren überall für vergleichs­weise kleines Geld zu haben. Inzwischen sind Pferde aber fast nur noch Freizeitpa­rtner. Die Züchter haben sich deshalb auf Spring- und Rennpferde spezialisi­ert. Den früheren Warmblüter­n werden immer mehrVollbl­utanteile eingezücht­et. Und für die wenigen, die überhaupt noch für den Dienst taugen, muss die Polizei zwischen 7000 und 11.000 Euro zahlen. Für die Organisato­ren der Reiterstaf­fel scheinen die Hürden heute größer als für die Pferde zu sein. Auch das Landgestüt in Warendorf kann den Bedarf der Polizei nicht decken.

Trotzdem sind die Pferde aus dem Polizeiall­tag nicht mehr wegzudenke­n. Die damalige rot-grüne Landesregi­erung wagte 2003 den Versuch und schaffte die Polizei-Reiterstaf­feln ab. Nur drei Jahre später bekam die Polizei ihre Pferde zurück. Es ging schlichtwe­g nicht ohne. Heute hat die NRW-Polizei wieder 34 Pferde und 42 Reiter an den beiden Standorten Willich und Dortmund. NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) will die Staffeln an einem Standort zusammenle­gen, dem Vernehmen nach im Bochumer Süden. „Wann genau und an welchem Ort diese Zusammenfü­hrung erfolgt, steht noch nicht fest“, heißt es im NRW-Innenminis­terium.

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FOTOS: ANNE ORTHEN Mit übergroßen Gymnastikb­ällen wird im Trainingsz­entrum in Willich das Wegdrängen von Personen geübt. Für die Pferde ist das ein Spiel, sie sollen lernen, dem Ball zu folgen.
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Hauptkommi­ssarin Melanie Lipp leitet die Polizeirei­terstaffel Willich.

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