Rheinische Post Krefeld Kempen
Überholspur statt Fahrradstreifen
ANALYSE Die Grünen haben mit den jüngsten Umfragewerten im Parteiensystem den Platz der SPD eingenommen. So schnell werden sie ihn nicht wieder loswerden – mit allen Konsequenzen, auch für eine Kanzlerkandidatur.
Mitte dieser Woche gelang es den Grünen noch mit Mühe, den Ball flach zu halten. Da sah erst ein Umfrageinstitut den grünen Balken höher sprießen als das Schwarz der Union. Auf den Berliner Frühjahrsempfängen standen grüne Abgeordnete daher trotz SPD-Krise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Brauchen die Grünen einen Kanzlerkandidaten? Wie lange hält der Höhenflug?Wie erfüllen die Grünen die neuen Erwartungen an sie?
Manch ein Grüner wischte die Fragen mit dem Hinweis beiseite, das sei eine Momentaufnahme im Lichte der Europawahlen, der schweren Krise der SPD und der schlechten Performance der CDU. Man wolle abwarten, was die großen Meinungsforschungsinstitute im Auftrag von ARD und ZDF sagen. Dabei schwang die Hoffnung mit, dass sich mit neuen Trends zumindest die K-Frage für die Grünen vorerst erledigen könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Auch Infratest Dimamp sieht die Grünen vor der Union. Und im Politibarometer hat die Partei der Kanzlerin mit 27 zu 26 nur noch einen Prozentpunkt Vorsprung auf die Grünen. Alle Fragen, die für die Grünen plötzlich im Raum standen, stellen sich also tatsächlich.
Ob die Grünen einen Kanzlerkandidaten oder eine Kandidatin brauchen, lässt sich nur beantworten, wenn man weiß, wie nachhaltig die Zustimmungswerte für die Grünen sind. Vieles spricht dafür, dass es den Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock nicht ergeht, wie dem früheren SPD-Chef Martin Schulz, der mit seiner Kanzlerkandidatur die SPD kurzfristig auf mehr als 30 Prozent hieven konnte und ein halbes Jahr später bei 20,5 Prozent landete.
Die beiden Grünen-Chefs haben eben dieses Beispiel vor Augen, wenn sie Fragen nach einer Kanzlerkandidatur als abwegig oder unseriös abbügeln. Zu gut wissen sie auch, dass die Grünen im
Frühjahr 2017, als der Martin-SchulzZug gerade Volldampf fuhr, selbst bei sieben bis acht Prozent lagen und zwischenzeitlich um den Einzug in den Bundestag bangten. Die Grünen glauben ihren aktuellen Umfragewerten, aber sie trauen ihnen nicht. Sie wissen zudem, dass Robert Habeck eine ähnliche Wirkung in Deutschland hat wie ehedem Emmanuel Macron in Frankreich: Die Grünen fungieren zurzeit auch als eine Sammlungsbewegung, die Klimaschützern und Pro-Europäern Hoffnung gibt. Wie flüchtig solche Zustimmungswerte sein können, die an Personen hängen, zeigt sich gerade in Frankreich. Dennoch sind die guten Zahlen belastbarer als noch 2011 rund um die Reaktorkatastrophe von Fukushima, die Winfried Kretschmann als Ministerpräsident in die baden-württembergische Staatskanzlei hievte.
Dass man mit den Grünen als starke Partei von 20 bis 30 Prozent auch künftig rechnen kann, hat drei Gründe. Erstens: Ihr Kernthema, der Umwelt- und Klimaschutz, ist zurVolksbewegung geworden, zum Thema einer Generation. Gäbe es die Grünen noch nicht, würden sie heute gegründet. Zweitens: Die Partei ist so gut aufgestellt wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Die Parteichefs genießen Top-Beliebheitswerte. Es dringt keinerlei Streit nach außen. Und sollte es zu einem vorgezogenen Wahlkampf kommen, können sie ihre Unterlagen aus den Jamaika-Sondierungen aus den Schubladen holen, noch ehrgeizigere Ziele draufpacken und loslegen. Drittens: Die Lage der SPD ist dramatischer als jemals zuvor. Der ehemalige SPD-Chef Hans-Jochen Vogel hat Recht mit seiner Analyse, dass die Sozialdemokraten in der schwersten Krise der Nachkriegszeit stecken. Und das ist der Grund, warum die Grünen einen Kanzlerkandidaten aufstellen müssen. Bis zur nächsten Bundestagswahl – auch wenn sie erst 2021 stattfinden sollte – wird die SPD sich nicht so weit erholen, dass sie wieder als Kanzlerpartei wahrgenommen werden könnte.
Auf die Frage von Infratest Dimap, wer die besten Antworten für die Zukunft habe, liegt die SPD unter den im Bundestag vertretenen Parteien mit nur zwei Prozent Nennung an letzter Stelle. Angeführt wird die Liste von den Grünen, gefolgt von Union, Linken, AfD und FDP.Von einem solchenVertrauensverlust bei denWählern kann sich eine Partei binnen zwei Jahren kaum erholen.
Es wird den Grünen also nichts anderes übrig bleiben, als mit einem klaren Gegenentwurf und auf Augenhöhe gegen die Union anzutreten. Und auch wenn das Lagerdenken in der Politik aus der Mode gekommen scheint, werden sich dann wieder zwei Parteien gegenüberstehen, die klar zu verorten sind – Mitte rechts und Mitte links. So schnell wird man zur Volkspartei, die man nie sein wollte.
Aber wenn es ernst wird, lauern auch eine Menge Gefahren, die die Umfragewerte der Grünen wieder dämpfen könnten. Die Bereitschaft, ein Bündnis mit SPD und Linken zu schmieden, kann sie zum Beispiel Stimmen kosten. Wer von der CDU zu den Grünen gewechselt ist, wird im Zweifel keine grünrot-rote Republik wünschen. Eine neu aufgestellte CDU wird diese Wähler zurückgewinnen können.
In der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist das Programm der neuen Grünen längst nicht präzise ausbuchstabiert. Sie schwanken zwischen dem Sozialstaatstraum eines Robert Habeck, der für ein bedingungsloses Grundeinkommen wirbt, und der Überzeugung, dass nicht nur Umwelt- sondern auch Finanzpolitik nachhaltig sein muss.
Noch läuft die Konjunktur in Deutschland, und die Beschäftigung liegt auf einem Rekordhoch. Wenn sich das Wirtschaftswachstum aber weiter abschwächt, dürfte auch das Zutrauen in die Grünen schrumpfen, dass sie die Herausforderungen der Zukunft bewältigen können. Nicht zuletzt hilft es den Grünen, dass die Flüchtlingsfrage aus der öffentlichen Debatte verschwunden ist. Ihre Positionen zu einer großzügigen Migration nach Deutschland sind nicht mehrheitsfähig.
Wenn es die Grünen noch nicht gäbe, würden sie heute
gegründet