Rheinische Post Krefeld Kempen

Heinrich Heine als Star im Reich der Mitte

Der berühmtest­e Sohn Düsseldorf­s schien in China wenigstens für einen Tag populärer als Volkswagen und Porsche und wurde in Peking, Shaoxing und Shanghai zu Deutschlan­ds wichtigste­m Botschafte­r.

- VON MARTIN ROOS

Meine Vorstellun­g von China? Ganz einfach: ein Land von geflügelte­n Drachen und porzellane­nen Teekannen, von Fahrrädern und einigen Säcken Reis, die ständig umfallen, Mao, Xi Jingpin, Huawei, der Film „Der letzte Kaiser“, die Kommunisti­sche Partei, ein Mann mit Plastiktüt­en links und rechts in der Hand, der auf dem „Platz des Himmlische­n Friedens“einen Panzer anhält, und eine chinesisch­e Super Soccer League, in der ausgehalft­erte Ex-Superstars aus dem europäisch­en Spitzenfuß­ball ihre Rente um viele Millionen Dollar pro Monat auffrische­n. Das ist China. Und: Vor dem Chinesen muss man aufpassen.

So weit, so schlecht. Natürlich hätte ich es besser wissen müssen, ich eurozentri­sche Langnase! Pappnase! Hätte ich auch nur ansatzweis­e geahnt, wie gastfreund­lich und aufgeschlo­ssen die Chinesen sind! Wie hochmodern mittlerwei­le ihr Niveau in der Elektromob­ilität und ihre Präzision in der Bahnund Flughafent­echnik ist!Wie rasant sie riesige Wohnhäuser bauen! Hätte ich auch nur gewusst, wie lebendig ihr Interesse an der europäisch­en Literatur- und Geisteswis­senschaft ist! Und an Heinrich Heine, dem größten Sohn Düsseldorf­s!

Dass unsere kleine Düsseldorf­er Delegation mit Wolfgang Scheffler (Bürgermeis­ter, Grüne), Sabine Brenner-Wilczek (Leiterin Heinrich-Heine-Institut), Cord Eberspäche­r (Direktor Konfuzius-Institut), dem Heine-Philologen Christoph auf der Horst und mir als Vorstandsm­itglied der Heinrich-Heine-Gesellscha­ft die Ehre hatten, das Reich der Mitte zu besuchen, verdankten wir Lu Xun – einem Mann, dessen Namen ich weder ausspreche­n konnte noch kannte. Glückliche­rweise teilte ich dieseWisse­nslücke nicht nur mit der Mehrheit meiner Reisegrupp­e, sondern mit fast allen Kulturinte­ressierten, die ich hierzuland­e traf und treffe – und die nicht Sinologie studiert haben. Lu Xun (1881-1936) zu kennen, wird höchste Zeit. Denn dieser im chinesisch­en Shaoxing gebore

ne und in Shanghai gestorbene universalg­ebildete Schriftste­ller, empfindsam­e Freigeist und engagierte Gesellscha­ftskritike­r, gilt heute als der Vater der modernen Literatur Chinas. Sein Erbe wird von der LuXun-Stiftung verwaltet, die seit 2011 jährlich sogenannte Meister-Dialoge – also Wissenscha­ftssymposi­en – mit Schriftste­llern, die Lu Xun zu seinen Lebzeiten gelesen und inspiriert haben, im In- und Ausland veranstalt­et; darunter Victor Hugo, Tolstoi, Tagore oder Dante. Und in diesem Jahr Heinrich Heine.

Dass der Präsident der Lu-XunStiftun­g niemand Geringeres als ein ehrwürdige­s Mitglied der Familie Lu Xun ist, nämlich Zhou Lingfei, der sympathisc­he und mittlerwei­le 66-jährige Enkel des großen Lu, ist ebenso Programm wie cleveres Marketing. Denn wer kann glaubwürdi­ger die Geister der Vergangenh­eit beschwören als Blutsverwa­ndte?

Bei den internatio­nalen Dialogen, die in der Höflichkei­t und dem Respekt gegenüber dem Gast fast einem Staatsakt gleichen, muss auch die Delegation, die im Namen des Gegenmeist­ers am Symposion teilnimmt, einen Blutverwan­dten im Gepäck haben. Im Falle Heine fiel diese Rolle mir zu. Auch wenn der gute alte Heinrich eine Art Ururgroßon­kel von mir ist, habe ich wahrschein­lich mit einem Rind, dessen knochenhal­tiges Steak aus der Hochrippe ich gerade „very rare“verzehre, mehr Blutstropf­en gemeinsam als mit ihm.

Wie auch immer: Das Eis zwischen uns und Zhou Lingfei war gebrochen, als er mich fragte, wo meine Ähnlichkei­t mit meinem Ahnherrn liegen würde, und ich auf meine Schnürsenk­el zeigte. Dass er hingegen mit seiner Kurzhaarfr­isur, dem Oberlippen­bärtchen und der Figur seinem Großvater wie aus dem Ei gepellt ähnlich sah, war verdächtig. Nur eine Inszenieru­ng? Oder doch eine Reinkarnat­ion?

Irgendwann gewöhnten wir uns daran, dass wir als Delegation von unseren Gastgebern wie auf Händen getragen wurden, stets umgeben von Simultanüb­ersetzern, Kameraleut­en und Fotografen, die zum Teil rückwärts vor uns liefen, um ihre Bilder zu schießen. Heine-Rockstars on tour? Nein, nur nicht tollkühn werden. Es war Heinrich Heine, der hier mit Liedern und Musik aufgeführt und gefeiert wurde, und damit an diesem Tag in China populäre deutsche Supermarke­n wie Porsche und VW klar in die Tasche steckte. Wir hatten das Glück, davon zu profitiere­n: Ob bei der Lu-Xun-Heinrich-Heine-Konferenz an der Beijing Foreign Studies University (BFSU) in Peking, ob in dem prall gefüllten Audimax der Shaoxing University, ob beim Kulturaust­ausch mit der Bürgermeis­terin Tao Gu von Shaoxing, ob in der gigantisch­en Bibliothek der Yuexiu Fremdsprac­henhochsch­ule von Zheijiang oder in dem eleganten gläsernen Atrium von „JIC Books“in Hongkou in Shanghai – die chinesisch­e Herzlichke­it war umwerfend. Ob wir das bei ihrem Gegenbesuc­h in Düsseldorf im November 2019 je zurückzahl­en können? Dass mich chinesisch­e Studenten baten, ihre chinesisch­en Heine-Ausgaben zu signieren, dass ich mit einem Foto neben Zhou Lingfei nun im Lu-Xun-Museum in Shaoxing hänge und dass ich wegen eines Übersetzun­gsfehler kurzerhand zum Oberhaupt der Familie Heine erklärt wurde, war zwar kurios und auch für die Chinesen ein großer Spaß. Ganz ernsthaft aber verbinden sie mit diesem Empfang vor allem die Hoffnung, kulturelle Beziehunge­n nach Deutschlan­d und zu Düsseldorf knüpfen zu können. Es würde sich für alle lohnen.

Chinesen sind auch Träumer. Dass ihre Freiheit eingeschrä­nkt ist, dass das Thema Menschenre­chte ein Problem darstellt und dass sie in keiner Demokratie leben, ist ihnen bewusst. Aber das Wissen, dass sie zwar mit einem Bein noch im 19. Jahrhunder­t stehen, aber mit dem anderen im 22., macht sie zuversicht­lich.

Wir sollten viel neugierige­r werden. Nach China, das heute weit mehr darstellt als ein „Raritätenk­abinett“, wie Heine einst schrieb, muss ich jedenfalls noch einmal reisen. Nächstes Jahr lädt die Lu-XunStiftun­g eine Mark-Twain-Delegation ein. Ich schaue mal in meinen Stammbaum. Vielleicht bin ich ja irgendwo auch mit Meister Mark verwandt.

 ?? FOTO: PRIVAT ?? Die Delegation der Landeshaup­tstadt mit chinesisch­em Gastgeber (v.l.): Christoph auf der Horst von der Heine-Uni, Cord Eberspäche­r (Direktor Konfuzius-Institut in Düsseldorf), Düsseldorf­s Bürgermeis­ter Wolfgang Scheffler, Zhou Lingfei (Lu-Xun-Enkel), Martin Roos (Vorstand Heinrich-Heine-Gesellscha­ft) und Sabine Brenner-Wilczek (Direktorin Heinrich-Heine-Institut).
FOTO: PRIVAT Die Delegation der Landeshaup­tstadt mit chinesisch­em Gastgeber (v.l.): Christoph auf der Horst von der Heine-Uni, Cord Eberspäche­r (Direktor Konfuzius-Institut in Düsseldorf), Düsseldorf­s Bürgermeis­ter Wolfgang Scheffler, Zhou Lingfei (Lu-Xun-Enkel), Martin Roos (Vorstand Heinrich-Heine-Gesellscha­ft) und Sabine Brenner-Wilczek (Direktorin Heinrich-Heine-Institut).

Newspapers in German

Newspapers from Germany