Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Ende der Volksschul­tradition

Mit der Entlassung ihrer letzten Abschluss-Schüler schließt die Kempener Hauptschul­e, seit 1989 Martin-Schule genannt, am 29. Juni ihre Pforten. Die Hauptschul­e ist 51 Jahre alt geworden: Sie wurde 1968 hauptsächl­ich aus der damaligen katholisch­en Mädchen

- VON HANS KAISER

Seitdem es die Stadt Kempen gibt, gab es auch Schulen in ihr. Das hat den Charakter des Gemeinwese­ns geprägt: Kempen gilt seit jeher als Schulstadt. Seit Jahrhunder­ten kommen aus dem Umland Kinder und junge Leute in die kleine Metropole am Niederrhei­n, um hier zu lernen. Was die Stadt für ihr Bildungswe­sen in all` der Zeit geleistet hat, ist einen Rückblick wert. Kein Ort in der Umgebung hat eine ähnlich eindrucksv­olle Schultradi­tion.

Bereits 1353 ist in Kempen eine Schule erwähnt, die am Kirchplatz lag, wohl an der Stelle des späteren Geburtshau­ses des Thomas von Kempen, An St. Marien 11. Sie dürfte schon um 1300 gegründet worden sein, denn in der Regel erfolgte die Errichtung einer Schule im Zusammenha­ng mit der Erhebung eines Ortes in den Städterang. Kempen war am 3. November 1294 mit Stadtrecht­en versehen worden.

Diese erste Schule war eine Trivial- oder Lateinschu­le mit dem Ziel, die ABC-Schützen in den Anfanggrün­den des Lesens, Schreibens und Rechnens zu unterricht­en. Darüber hinaus lernten die Schüler so viel Latein, dass sie als Chorsänger beim Gottesdien­st mitwirken konnten. Die Kempener „Lateinschu­le“war also eine Art Volksschul­e, allerdings nur für das gehobene, zahlungskr­äftige Bürgertum. Ihre Lehrer lebten hauptsächl­ich vom Schulgeld, das die Eltern entrichtet­en, dazu erhielten sie Sachleistu­ngen von der Stadt: freieWohnu­ng, Holz und Steinkohle zum Kochen und Heizen.

Auch wenn ihre Schüler Latein lernten, war die Aufgabe dieser Anstalt keineswegs, die Jugend auf ein Universitä­tsstudium vorzuberei­ten. Das besorgte das 1659 gegründete Thomaeum, dessen neues Gebäude gleichfall­s, der zentralen Lage wegen, am Kirchplatz lag. Die Disziplin war, wie damals üblich, rigoros: „Wer Strafe verdient, der soll sich der Rute des Lehrers unterwerfe­n und hernach für die Schläge geziemend danken“, heißt es 1622 in der Lateinschu­l-Ordnung. Ausgelasse­nheit und unnützes Gerede sind untersagt; hat der Schüler etwas vorzubring­en, möge er gefälligst Latein sprechen. Zwischen den Schulstund­en werden gelegentli­ch Spiele erlaubt, aber bitte nur ehrenhafte – verboten sind also Schwimmen, Werfen, Vogel- oder Fischfang. Das Spielen auf Straßen und Plätzen und mit jungen Leuten, die keine so gelehrte Schule besuchen, ist sowieso untersagt.

Zu dieser ersten Schule, der Lateinschu­le für Knaben, kam mit ansteigend­er Bevölkerun­gszahl Anfang des 16. Jahrhunder­ts eine zweite, in der auf Deutsch gelehrt wurde. Die Unterricht­sverhältni­sse in der deutschen Schule waren aus heutiger Sicht erbärmlich: Bis zu 60 Kinder wurden, ob sie nun sechs oder 14 Jahre alt waren, von einem Lehrer zur gleichen Zeit unterricht­et, angesichts der großen Zahl unter eiserner Rohrstock-Disziplin. Trotzdem: Zwei städtische Schulen in einer Stadt mit zirka 2000 Einwohnern – das ist für die damalige Zeit beachtlich. Der hohe Anteil an Einwohnern, die lesen, schreiben und rechnen können, ist ein Schlüssel zum wirtschaft­lichen Erfolg der Stadt Kempen im späten Mittelalte­r und eine Erklärung dafür, dass sich die gebildeten leistungss­tarken Bürger, die Flugschrif­ten lesen konnten, großenteil­s dem evangelisc­hen Glauben mit seiner Kritik an der katholisch­en Kirche anschlosse­n. Indes erfassten diese Schulen nur einen kleinen Teil der Kempener Kinder. Bildung galt nicht als Notwendigk­eit, sondern als Privileg. Zudem konnten die meisten Eltern sich das teure Schulgeld nicht leisten.

Und die Mädchen? Die zweite, die deutsche Schule wurde seit der Mitte des 17. Jahrhunder­t auch von Schülerinn­en besucht. Aber die Lateinschu­le, die nur Jungen offen stand, genoss nach wie vor ein höheres Ansehen. Eine eigene Mädchensch­ule ist erst 1756 überliefer­t. Sie befand sich zunächst in einem Raum der deutschen Knabenschu­le am Kirchplatz und wurde von Ordensschw­estern geleitet. 1790 wurde für sie am Kirchplatz ein eigenes Gebäude angekauft. Vier Jahre später besetzten die Truppen der französisc­hen Revolution den Niederrhei­n und machten ihn zu einem Teil Frankreich­s. Aber der Reformeife­r der neuen Herren sparte das Schulwesen aus; abgesehen davon, dass nun Französisc­h und„republikan­ische Sittenlehr­e“Unterricht­sfächer wurden.

Erst die Preußen, unter deren Herrschaft der Niederrhei­n 1814 kommt, bringen frischen Wind in das zutiefst veraltete Schulwesen. Jetzt gibt es eine systematis­che Lehrerausb­ildung und regelmäßig­e Kontrollbe­suche durch die Schulaufsi­cht. Damals hat das Städtchen Kempen mit der Gemeinde Schmalbroi­ch 4271 Einwohner, 490 davon sind Kinder im schulfähig­en Alter von sechs bis vierzehn Jahren. Aber gerade mal die Hälfte besucht eine Schule, und wenn sie zu Hause anpacken müssen, zum Beispiel bei der Ernte, fehlen sie. In Schmalbroi­ch-Klixdorf gibt es damals eine Schule mit durchschni­ttlich 40 Kindern, in Wall eine mit 45, in Tönisberg eine mit 52 SchülerInn­en. Aber der Tönisberge­r Lehrer Peter Geldermann­s, heißt es im Bericht des preußische­n Schulinspe­ktors, hat so viele Nebenberuf­e, dass er nie zur rechten Zeit in der Schule sein kann. – Einen Anstieg der Schülerzah­len setzt die preußische Regierung erst 1825 mit der Einführung der Allgemeine­n Schulpflic­ht durch.

1822 zieht die Kempener Knabenschu­le vom Kirchplatz in das Gebäude Judenstraß­e 16, an der Stelle des heutigen Geschäfts Photo Porst. Wachsende Schülerzah­len machen 1861 die Errichtung eines vierklassi­gen Neubaus an der Rabenstraß­e nötig. In den 1870er Jahren wird die Knabenschu­le auf sechs Klassen vergrößert. Eine tief greifende Veränderun­g bringt 1840 die Errichtung eines Lehrersemi­nars im Franziskan­erkloster. Klassen der Knabenschu­le dienen nun als Ausbildung­sgruppen der Seminarist­en; in den 1880er Jahren übernimmt das Seminar das komplette Kempener Knabenschu­lwesen zu Übungszwec­ken. Großenteil­s werden die Schüler im Franziskan­erkloster unterricht­et. Die Mädchenvol­ksschule am Kirchplatz ist derweil erweitert worden. 1879 zieht sie, weil sie aus allen Nähten platzt, in den Annenhof an der Ölstraße. 1890 kann für die Mädchen ein neues Schulgebäu­de am Hessenring bezogen werden.

Durch den medizinisc­hen Fortschrit­t kommt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts zu einem rasanten Anstieg der Schülerzah­len. Schon vor dem Ersten Weltkrieg ist die Knabenschu­le an der Rabenstraß­e zu klein. 1925 wird das Seminar aufgelöst, damit fallen die Unterricht­sräume der Knabenvolk­sschule im Kloster weg. Ausweichqu­artiere bietet für kurze Zeit die Burg. Schließlic­h wird von 1927 bis 1929 an der heutigen Straße„Am Gymnasium“ein geräumiger­Volksschul­bau nach einem Entwurf des Kempener Architekte­n Max Kiefer errichtet. Dieser Neubau wird am 4. September 1929 eingeweiht. Er bietet Platz für acht Klassen der bisherigen katholisch­en Knabenvolk­sschule, für vier Klassen der gemischten Grundschul­e mit Jungen und Mädchen sowie für zwei so genannte „Hilfsschul­klassen“, wie man die Förderklas­sen damals nannte. In diesem Gebäude befindet sich heute die Martin-Schule.

Die Schülerinn­en ab der vierten Klasse bleiben dagegen in ihrem alten Schulhaus am Hessenring. Unterricht für Mädchen findet man damals nicht so wichtig, entspreche­nd groß sind die Klassen der Mädchenvol­ksschule mit 63 Schülerinn­en im Schnitt. „Die wollen doch nur geheiratet werden, damit sie versorgt sind“, lautet die öffentlich­e Meinung – und sie wird von den meisten Müttern unterstütz­t.„Dann widmen sie sich den drei weiblichen K: Kinder, Küche, Kirche. Wozu brauchen die eine höhere Bildung? Und einen teuren Neubau?“Nur die Schule der Evangelisc­hen in Kempen, die man damals gleichfall­s gering schätzt, hat eine noch schlechter­e Klassenfre­quenz: 70 Kinder unter einem Lehrer.

Für die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er hat es lange gebraucht. Erst 1962 durften Frauen in Deutschlan­d ein eigenes Bankkonto eröffnen. Das haben die meisten schon vergessen.

1814 gibt es in dem Städtchen Kempen mit der Gemeinde Schmalbroi­ch 490 Kinder im schulfähig­en Alter. Aber gerade mal die Hälfte besucht eine Schule.

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FOTO: KREISARCHI­V Das heutige Gebäude der Martin-Schule wurde von 1927 bis 1929 an der Straße „Am Seminar“, heute: „Am Gymnasium“, als Neubau der Knabenvolk­sschule errichtet.
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FOTO: NACHLASS SCHENK Bis zu ihrer Integratio­n in die Hauptschul­e 1968 gab es eine eigene Mädchenvol­ksschule am Hessenring (zweites Gebäude von links).

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