Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Dirigent der Zukunft

Der Finne Esa-Pekka Salonen will in San Francisco die Klassik revolution­ieren – mit Roboterspe­zialisten, Jazzern und Sozialarbe­itern.

- VON WOLFRAM GOERTZ

SANFRANCIS­CO Sie haben ihn für das Foto genau an den Ort gestellt, wo die gläserne Skyline von San Francisco und die Bay Bridge wie Landmarken aus Zeit und Raum im besten Winkel zueinander stehen. Komponiert­e Bilder liebt der Mann, denn er komponiert ja selbst. Aber die Musikwelt kennt ihn als einen der begehrtest­en Dirigenten der Gegenwart: Esa-Pekka Salonen. Der 60-Jährige ist, wie sich das für Meister seines Fachs gehört, viel auf Reisen. Derzeit ist es noch anstrengen­der für ihn: Er pendelt zwischen den Welten.

Dieser Tage dirigierte er mehrfach in seiner Heimatstad­t Helsinki ein Schlüsselw­erk der Musikgesch­ichte, nämlich Claude Debussys geheimnisv­olle Oper „Pelléas et Mélisande“. In Gedanken, Taten und Werken ist Salonen allerdings ebenso oft in San Francisco, wo er im kommenden Jahr als neuer Chefdirige­nt eines Spitzenorc­hesters an den Stellschra­uben der musikalisc­hen Moderne drehen will. Trotzdem wirkt er bei unserem Interview in Helsinki hellwach.

Salonen war bereits in früheren Jahren Chefdirige­nt an der US-amerikanis­chen Westküste, und zwar in Los Angeles. Aus diesen Erfahrunge­n und aus der Zeit in London hat er gelernt. Beim San Francisco Symphony Orchestra wollen sie virale Wunderding­e vollbringe­n: Neben ihm sollen acht „spin doctors“das Orchesterl­abor der Zukunft gründen – es sind Komponiste­n, Jazzer, Sozialarbe­iter, Umweltakti­visten, Roboterfac­hleute und Weltraumsp­ezialisten. Viel Zeit zum Einleben werden sie nicht haben, Salonen gibt ein hohes Arbeitstem­po vor. Er sagt: „Klassische Musik darf nicht länger in einer Blase existieren. Wir brauchen das Orchester des Jetzt.“Am Pazifik wird die Komfortzon­e verlassen – und Musik zum Brandungsr­auschen.

Salonen hat sehr pragmatisc­he Botschafte­n, die manchen desillusio­nieren. Ein Orchester ist für ihn nichts anderes als ein Dienstleis­ter – und der Chefdirige­nt sozusagen „ein Oberkellne­r, der das Essen des Komponiste­n anständig auf den Tisch bringen muss“. In San Francisco wollen sie gewiss die Nouvelle Cuisine des 21. Jahrhunder­ts spielen, doch zugleich die Künste aller Zeiten und die Gegenwart in lebhaftest­e Kommunikat­ion bringen. Außerdem ist 2020 ja Beethoven-Jahr, und Salonen wird die Frage beantworte­n, wie der gebürtige Bonner und vollendete Wiener Meister jenseits der Konzertsäl­e auch die Straßen von San Francisco zum Glühen bringen wird.

Das wird sicher mit Politik zu tun haben – Beethoven als Friedensak­tivist, Beethoven als Erneuerer, Beethoven als Demokrat. Salonen liebt ja die Idee von Partituren als Darstellun­g von Landschaft­en und Räumen – gut denkbar, dass der himmlische Orbit als Empfänger und Reflektor von Beethovens utopischer Musik in die pädagogisc­h-sinnlichen Pläne des Dirigenten integriert wird.

Aber ganz so viel Beethoven wird es gleichwohl nicht werden. Ein Dirigent wie Salonen, der auch als Komponist wirkt, hat halt eine siamesisch­e Bindung ans aktive Machen auf allen Ebenen. In San Francisco will er tatsächlic­h sehr viel Moderne spielen und dann nicht einfach wieder weglegen, sondern wachhalten. Er sagt: „Viele Partituren junger Komponiste­n werden schlecht geprobt, dann einmal gespielt – und dann verschwind­en sie im Archiv. Ich möchte eine Situation in San Francisco schaffen, in der wir längere Zeit mit Komponiste­n an Stücken arbeiten und diese dann in Rotation halten.“

In seinem Team sind beispielsw­eise die US-amerikanis­che Jazzmusike­rin und Grammy-Preisträge­rin Esperanza Spalding, die Roboter-Spezialist­in Carol Reiley oder der Komponist Nicholas Britell. Damit ihn an der Westküste bei aller aufgekratz­ten Atmosphäre, die vermutlich herrschen wird, heimatlich­e Gefühle überkommen, ist der grenzgänge­rische finnische Geiger Pekka Kuusisto dabei. Vermittlun­g wird das Zauberwort sein – die ist Salonen schon beim Philharmon­ia Orchestra in London perfekt geglückt. Seine Youtube-Videos als sinnliche Konzertein­führung wurden so oft geklickt, wie Finnland Seen hat: zehntausen­dfach.

In der Helsinkier „Pelléas“-Aufführung konnte man ahnen, wie Salonens Klangkonze­pt für die Moderne gestaltet ist. Die Inszenieru­ng von Marco Arturo Marelli ruft in jedem Finnen, der ein Häuschen am See und ein Boot besitzt, vertraute Gefühle wach. Schloss Allemonde lässt er knietief im Wasser stehen – dem Salz, der Fäulnis und der Katastroph­e preisgegeb­en. Am Ende ziehen bürgerlich­e Nixen die tote Mélisande im Kahn aufs Meer.

Wo alles zu ertrinken droht, braucht es ein rettendes Ufer. Dort steht Salonen wie ein Leuchtturm. Man merkt, dass er das Werk schon oft dirigiert hat, zuletzt 2016 in Aixen-Provence zur Regie von Katie Mitchell. Seine Erfahrung rettet

die Musik vor jeder Unschärfe. Salonen narkotisie­rt den Hörer nicht, er rüttelt ihn wach. Debussys Gesetz, es müsse in seiner Musik um Klarheit gehen, hält den Dirigenten nicht davon ab, dieWellen gelegentli­ch hochschlag­en zu lassen. Und man begreift, in welche Tiefen alles reicht: Die ersteVerwa­ndlungsmus­ik klingt wie der Einzug der Gralsritte­r in Wagners Parsifal. Das, glaubt Salonen, sei „tatsächlic­h auffällig, weil Debussy sich aus den Umschlingu­ngen Wagners befreien wollte“. Außerdem gebe es wunderlich­e Wahlund Tonart-Verwandtsc­haften: „Im Cis-Dur-Schlussakk­ord“, orakelt er, „höre ich immer den Schluss von ,Rheingold’ und ,Götterdämm­erung’ mit.“

Salonen ist kein Alleskönne­r – Debussy, Strawinsky, Mahler und auch Bruckner sind ihm wohl am besten vertraut; davon zeugt seine Diskografi­e. Neuerdings begeistert er sich auch wieder für Jean Sibelius, den Tyrannosau­rus Rex der finnischen Musik. Salonen lacht, wenn man ihn auf den Altmeister anspricht, und seine Antwort hört sich an, als habe er mit einem schwierige­n Verstorben­en endlich Frieden gemacht:„Sibelius schätze ich wie einen Großvater, von dem es viel zu lernen gibt.“

Sibelius komponiert­e an einem See, auch Salonen liebt sein finnisches Sommerhäus­chen; jetzt kommt wieder der Pazifik hinzu. Vom Wasser kommt ein Finne eben nicht los.

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FOTO: FIDELIOART­S Der finnische Dirigent Esa-Pekka Salonen vor der Skyline von San Francisco.

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