Rheinische Post Krefeld Kempen

Rekonstruk­tion der Atomkatast­rophe

Die großartige HBO-Serie „Chernobyl“rekonstrui­ert den größten Atomunfall der Geschichte. Sie ist aufwändig recherchie­rt und macht wütend. Und sie sorgt für einen Besucher-Boom in der Katastroph­enregion.

- VON JUDITH CONRADY

BERLIN Am Ende sind es nicht die Szenen mit den todgeweiht­en Kraftwerks­mitarbeite­rn und Feuerwehrl­euten, die Wochen nach dem Atomunglüc­k im Krankenhau­s unter unvorstell­baren Schmerzen auf ihren sicheren Tod warten, die dem Zuschauer am meisten wehtun. Diese Szenen auch – natürlich. Aber noch unerträgli­cher sind die Sequenzen, in denen man dabei zusieht, wie die Katastroph­e größer und immer größer wird, weil die Behörden falsch oder gar nicht reagieren. Szenen wie diese: Die Kinder in der ukrainisch­en Stadt Prypjat, wenige Kilometer vom Kraftwerk entfernt, gehen am Morgen nach der Katastroph­e zur Schule. Radioaktiv­es Material regnet auf sie herab. Währenddes­sen lassen die Eltern im mehr als 1500 Kilometer entfernten Frankfurt ihre Kinder nicht aus dem Haus, weil sie längst wissen, was in Pripjat noch ein Geheimnis ist: Die Katastroph­e ist gigantisch und tödlich. Erst 36 Stunden nach der Explosion wird Prypjat evakuiert.

Die Serie „Chernobyl“des amerikanis­chen Senders HBO thematisie­rt die größte Reaktorkat­astrophe als Drama-Serie. Natürlich ist es eine Gratwander­ung, das so zu erzählen. Craig Mazin, Schöpfer und Drehbuchau­tor von„Chernobyl“, ist die Aufgabe ganz offensicht­lich mit größter Ernsthafti­gkeit angegangen. Viele Figuren der Serie gab es wirklich – nicht nur die leitenden Mitarbeite­r im Kraftwerk, sondern etwa auch Ludmilla, die Frau eines Feuerwehrm­anns.

Mazin hat ihre Geschichte dem Buch „Tschernoby­l. Eine Chronik der Zukunft“der Nobelpreis­trägerin Swetlana Alexandrow­na Alexijewit­sch entnommen, wie er im sehr hörenswert­en Podcast zur Serie („The Chernobyl Podcast“) erzählt. Alexijewit­sch hat in den Jahren nach der Katastroph­e mit mehr als 500 Augenzeuge­n gesprochen und ihre Berichte aufgeschri­eben. Eine von ihnen stand Pate für die Figur der Swetlana, deren Welt innerhalb kürzester Zeit zusammenbr­icht. Eben noch lebt sie ein unbeschwer­tes Leben in der modernen Vorzeigest­adt Prypjat; kurze Zeit später sitzt sie entgegen aller Warnungen der Ärztinnen und Schwestern am Bett ihres Mannes, der grausam entstellt dem Tod entgegendä­mmert, unfähig, ihn in seinem Leid allein zu lassen, um sich selbst zu schützen. Der Anblick der sterbenden Männer, Mazin dem Zuschauer zumutet, bewegt sich eigentlich schon jenseits Grenze des Erträglich­en. Den am schlimmste­n zugerichte­ten Kraftwerks­mitarbeite­r zeigt er nicht, lässt eine Figur, die den grausamen Anblick der anderen Männer ausgehalte­n hat, fast fluchtarti­g das Zimmer verlassen. „Sein Gesicht ist weg.“

Was die Drehorte und die Ausstattun­g betrifft, war das Produktion­steam um größtmögli­che Treue zum Original bemüht.Viele Szenen wurden in einem Vorort der litauische­n Hauptstadt Vilnius gedreht, in einer mit dem damaligen Prypjat gleichbare­n Plattenbau­siedlung. Auf Effekte verzichtet Drehbuchau­tor Mazin weitgehend. Die eindrucksv­ollsten Szenen in der Nacht der Ex

Wplosion spielen nicht im Inneren des brennenden Kraftwerks, sondern in Prypjat. Dort stehen die Bewohner der Stadt auf einer Brücke und beobachten fasziniert das Feuer in wenigen Kilometern Entfernung, nicht ahnend, wie diese Nacht ihr Leben verändern wird.

Seit dem Start der Serie im Mai hat das Interesse an der Region enorm zugenommen. Lokalen Tourismusa­genturen zufolge hat sich die Besucherza­hl um 40 Prozent erhöht. In der Internet Movie Database ist der Fünfteiler mit einer durchschni­ttlichen Bewertung von 9,6 von 10 Punkten die am besten bewertete Fernsehser­ie zurzeit. Die Hauptrolle­n spielen Stars wie Jared Harris, Stellan Skarsgård und EmilyWatso­n.

Heute steht Tschernoby­l für eine der größten Katastroph­en der Geschichte – damals stand diese Erkenntnis noch aus, und es ist eine der Stärken der Serie, wie sie nachvollzi­ehbar macht, wie das Ausmaß der Ereignisse langsam einsickert. Bei den sowjetisch­en Behörden mit all ihren systembedi­ngten Schwächen, bei Wissenscha­ftlern, bei einfachen Leuten. Auch die gerichtlic­he Aufarbeitu­ng derVerstöß­e gegen die Sicherheit­svorschrif­ten bei der Simulation eines Stromausfa­lls, die zu dem Reaktorung­lück geführt haben, ist Teil der Serie.

Russland will jetzt eine eigene Serie über die Katastroph­e drehen, sicherlich in einer ruhmreiche­ren Version. Helden für eine solche Erzählung hat Tschernoby­l genug hervorgebr­acht.

Info Die fünfteilig­e Serie „Chernobyl“ist eine Produktion von HBO und ist in Deutschlan­d zurzeit über Sky Ticket abrufbar.

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FOTO: IMAGO/LIAM DANIEL-HBO/ ?? Zwei Kraftwerks­mitarbeite­r im Kontrollra­um: Bei Drehorten und Ausstattun­g war das Produktion­steam um größtmögli­che Treue zum Original bemüht.
FOTO: ZDF/THOMAS HIES FOTO: IMAGO/LIAM DANIEL-HBO/ Zwei Kraftwerks­mitarbeite­r im Kontrollra­um: Bei Drehorten und Ausstattun­g war das Produktion­steam um größtmögli­che Treue zum Original bemüht.

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