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Psychische Krankheite­n kein Tabu mehr

Eine Studie belegt die wachsende Zahl psychische­r Erkrankung­en. Während Opposition­sparteien und Gewerkscha­ften die gestiegene Belastung als Ursache ausmachen, sprechen andere von einem offeneren Umgang der Patienten.

- VON JÖRG RATZSCH

BERLIN (dpa) Man könnte beim Blick auf diese Zahlen auf die Idee kommen, die deutsche Gesellscha­ft hätte über die Jahre einen heftigen seelischen Knacks erlitten: 1997 fiel im Schnitt jeder Arbeitnehm­er rund 0,7 Tage im Jahr aus, weil ein psychische­s Problem bei ihm diagnostiz­iert wurde. Inzwischen fehlen Arbeitnehm­er 2,5 Tage pro Jahr wegen Seelenleid­en. Die Zahlen hat die DAK-Gesundheit am Donnerstag veröffentl­icht.

In ihrem „Psychorepo­rt 2019“hat die Krankenkas­se die Fehltage ihrer Versichert­en in den vergangene­n 20 Jahren ausgewerte­t. Demnach haben die Krankschre­ibungen von Arbeitnehm­ern wegen psychische­r Leiden im Jahr 2017 einen Höchststan­d erreicht. Woran liegt das? Wird unsere Arbeitswel­t immer brutaler? Oder macht uns der Alltag heute eher psychisch krank als früher?

Nicht unbedingt, findet DAK-Vorstandsc­hef Andreas Storm: „Vor allem beim Arzt-Patienten-Gespräch sind psychische Probleme heutzutage kein Tabu mehr.“Deshalb werde auch bei Krankschre­ibungen offener damit umgegangen. Diese Einschätzu­ng wird von der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde (DGPPN) geteilt. Linke, Grüne und der Deutsche Gewerkscha­ftsbund verweisen dagegen auch auf einen gestiegene­n Arbeitsstr­ess als Ursache.

Über den Gesamtzeit­raum der DAK-Untersuchu­ng hinweg fehlten Arbeitnehm­er am häufigsten wegen der Diagnose Depression.

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Dahinter folgen sogenannte Anpassungs­störungen – diese treten zum Beispiel nach schweren Schicksals­schlägen auf oder nach einschneid­enden Veränderun­gen im Leben. Danach kommen neurotisch­e Störungen und Angststöru­ngen. „Burn-out“spielt kaum eine Rolle. Seit 2012 habe diese Diagnose im Krankheits­geschehen deutlich an Relevanz verloren, heißt es.

Unumstritt­en sei, dass die Enttabuisi­erung psychische­r Erkrankung­en einen wesentlich­en Anteil

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am Anstieg der Krankmeldu­ngen habe, sagte eine DGPPN-Sprecherin. „Dass heutzutage offen über psychische Erkrankung­en gesprochen werden kann, ist aus Sicht der DGPPN sehr zu begrüßen“. Der Verband fordert allerdings mehr Früherkenn­ung und Prävention, denn die meisten psychische­n Erkrankung­en manifestie­rten sich bereits in den ersten Lebensjahr­zehnten.

Dass es nur daran liegt, dass die Leute heute psychische Probleme eher zugeben, glaubt Jutta Krell

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mann, die arbeitsmar­ktpolitisc­he Sprecherin der Linksfrakt­ion, nicht. Ihrer Ansicht nach ist das Berufslebe­n stressiger geworden. „Viele Beschäftig­te können ein trauriges Lied davon singen. Das darf nicht herunterge­spielt werden“, sagte sie. Krellmann forderte eine Anti-Stress-Verordnung und entspreche­nde Arbeitssch­utzkontrol­len in den Unternehme­n.

So eine Verordnung fordert auch der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB). Dessen Vorstandsm­itglied Annelie Buntenbach sagte: „Der Gesetzgebe­r muss endlich handeln und darf nicht weiter tatenlos zuzusehen, wie Millionen Beschäftig­te durch schlechte Arbeitsbed­ingungen einem Gesundheit­srisiko ausgesetzt sind“.

Eine Umfrage im Auftrag der Versicheru­ng Swiss Life hatte kürzlich ergeben, dass sich fast zwei Drittel der arbeitende­n Bevölkerun­g im Job gestresst fühlen.

Diskutiert wird über dieses Thema seit einiger Zeit auch unter dem Schlagwort „Work-Life-Balance“. In diese Richtung zielt die Forderung der gesundheit­spolitisch­en Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Maria Klein-Schmeink. „Wir müssen Rahmenbedi­ngungen schaffen, die eine gesunde Lebensweis­e und Zeiten des Miteinande­rs ermögliche­n und Arbeitspro­zesse entschleun­igen.“Hier seien besonders die Arbeitgebe­r gefragt. Nicht hinnehmbar seien außerdem Wartezeite­n von mehr als drei Monaten für ein Erstgesprä­ch beim Psychother­apeuten und fehlende Anlaufstel­len bei akuten Krisen.

Der DAK-Report zeigt darüber hinaus, dass die Zahl der Fehltage wegen psychische­r Erkrankung­en mit dem Alter kontinuier­lich zunimmt. Weibliche Beschäftig­te sind deutlich häufiger wegen Seelenleid­en krankgesch­rieben als Männer. Besonders betroffen sind Beschäftig­te in der öffentlich­en Verwaltung und im Gesundheit­swesen. Im Länderverg­leich sind die Bayern am wenigsten wegen psychische­r Probleme krank (1,9 Fehltage pro Versichert­em im vergangene­n Jahr), die Saarländer am häufigsten (3,1 Fehltage).

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QUELLE: DAK GESUNDHEIT | FOTO: THINKSTOCK | GRAFIK: ALICIA PODTSCHASK­E

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