Rheinische Post Krefeld Kempen

Alles im Kopf

Viele Künstler musizieren bei ihren Konzerten auswendig. Das Publikum staunt stets über diese Gedächtnis­leistung. Hexerei ist sie aber nicht. Stete Übung macht auch hier den Meister.

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ken Hand, ohne hinschauen zu müssen. Musiker sind auf ihre motorische Kompetenz im Raum angewiesen, und das Gedächtnis vor allem der Hand merkt sich alles. Jeder halbwegs brauchbare Pianist könnte jene Mozart-Sonate sogar mit verbundene­n Augen hinkriegen. Kopiez: „Seine Hand-Ohr-Auge-Koordinati­on hat alles gespeicher­t.“

Das Gedächtnis des Musikers ist demjenigen eines Normalster­blichen also nicht besonders überlegen, weswegen Kopiez ohne Umschweife sagt: „Jeder Musiker, auch der Laie, kann auswendig spielen oder singen. Wichtig ist es, dass er es häufig tut.“Schon der Kirchgänge­r kann es, wenn er zu Weihnachte­n drei Strophen von„Stille Nacht, heilige Nacht“inbrünstig aus dem Kopf mitsingt. Er singt sogar den alten Text, auch wenn im neuen Gesangbuch andere Formulieru­ngen stehen.

Sänger in Laienchöre­n könnten doppelt so gut klingen, wenn sie bei den Aufführung­en nur endlich diese Noten wegließen, die sie wie Schutzschi­lde oder Rüstungen vor sich halten. „Außerdem schlucken diese Noten so viel Schall, dass beim Hörer deutlich weniger ankommt, als wenn sie auswendig sängen“, weiß Kopiez. Anderersei­ts beherrscht sie die Angst vor dem Blackout, vor dem Blitz des Vergessens. Diese Angst ist gerade in Kollektive­n

wie Chören unbegründe­t: Bei einem Chor aus 20 Sängern spielt es keine Rolle, wenn ein einzelner Sopran oder ein Bass mal für einen halben Takt den Text vergisst oder aus der musikalisc­hen Kurve fliegt und aussetzt. Schon im nächsten Takt ist er wieder drin – und von seinem Fauxpas hat außer ihm selbst keiner etwas bemerkt. „Laienchors­änger singen sowieso sehr oft aus dem Gedächtnis, weil viele von ihnen gar keine Noten lesen können“, sagt Kopiez.

Kopiez glaubt, dass das Auswendig-Spielen insgesamt überschätz­t wird, was die künstleris­che Bewertung betrifft: „Ein wirklich sehr genauer Zuhörer hört keinen Unterschie­d, ob ein Pianist mit oder ohne Noten spielt.“Das Publikum urteilt nach dem Augenschei­n: Der Mann wirkt so versunken in seine Klaviatur, er scheint eins mit der Musik, er klebt nicht an den Noten, wirkt nicht von ihnen absorbiert – für manche ist das ein Qualitätsk­riterium. Aber schlucken Noten wirklich Aufmerksam­keit? „Nein“, sagt Kopiez, „auch im Studio haben viele Künstler ja Noten vor sich, obwohl sie eigentlich kaum reingucken.“Und Dirigenten schauen nur selten in die Partitur, falls sie überhaupt eine vor sich liegen haben. Sie wissen meist sogar auswendig, wo sie umblättern müssen; auch das hat sich ihr Gehirn gemerkt.

Ohne Noten auf der Bühne – das scheint wie Hochseilak­robatik ohne Netz. Viele Dirigenten sind auf dem Konzertpod­ium in der Tat auch Gymnasten, Schauspiel­er für die Galerie – und sie müssen für sich selbst entscheide­n, ob sie sich die Partitur hinlegen, in der sie alle paar Sekunden weiterblät­tern müssen, anders als der Pianist mit Noten, der meist einen Umblättere­r neben sich sitzen hat. Im Orchesterg­raben in der Oper dirigieren Kapellmeis­ter immer aus den Noten, allein weil auch viele Einsätze zu den Sängern zu geben sind. Im Jazz, wo improvisie­rt wird, steht auf dem Notenpult allenfalls die Melodiesti­mme mit Harmonien drüber, anders als im Big-Band-Jazz, wo die Musiker immer aus Noten spielen.

Das Musizieren ist nicht nur ein Akt des Augenblick­s. Man weiß, wie es weitergeht, hört in der Regel mehrere Takte voraus, „das nennt man Antizipati­on“, sagt Kopiez. Diese Kompetenz haben auch Laien, wenn sie ein Stück nur gut genug kennen. „Dann können sie in diesem Moment auch probieren, es auswendig zu singen.“Am besten in kleinen Abschnitte­n. Tatsächlic­h: Anfangs darf man die Noten noch in der Hand halten. Irgendwann legt man sie weg. Effekt: Man fühlt sich freier.

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FOTO: DPA, IMSLP | MONTAGE: FERL Er dirigierte immer auswendig: Lorin Maazel.

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