Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Standards von heute

Innovation­en im Fußball verändern auch Eck- und Freistöße und bewahren so ihre zentrale Bedeutung für den Torerfolg.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N UND KARSTEN KELLERMANN

DÜSSELDORF In Leverkusen können sie seit dem Wochenende ein Lied davon singen, wie wichtig ein Tor nach einem ruhenden Ball ist. Beziehungs­weise: wie wichtig es gewesen wäre. 19 Eckstöße schlug das Team von Trainer Peter Bosz, doch Zählbares sprang gegen defensiv agierende Hoffenheim­er nicht heraus. So warf dieses 0:0 ein Schlaglich­t auf die Bedeutung von Toren nach Standards im heutigen Spitzenfuß­ball. Und die ist ungebroche­n – aus zwei Gründen. Für spielerisc­h unterlegen­e Teams ist es erfolgsver­sprechende­r, aus einer massiven Defensive zu agieren und ruhende Bällen als größte Chance auf ein eigenes Tor sehen. Und auf höchstem Niveau erkennen immer mehr Klubs, dass kreative Standards den Unterschie­d im Detail machen, wenn man auf Augenhöhe ist.

Beispiel Champions-League-Saison 2018/2019. Dort, wo die Besten Europas unter sich sind, ging die Zahl der Tore, die aus ruhenden Bällen entstanden, zwar leicht zurück, aber immer noch fällt auf diese Art und Weise fast jeder fünfte Treffer (18 Prozent). Die so genannten technische­n Beobachter der Uefa haben nun bei ihrer Analyse der vergangene­n Saison der Königsklas­se festgestel­lt, dass sich Kreativitä­t bei der und Investitio­n in die Arbeit an Standardsi­tuationen auszahlen kann. In Bezug auf den späteren Titelträge­r FC Liverpool heißt es im Uefa-Bericht: „Interessan­terweise hatten sich Jürgen Klopp, seine Assistente­n und die Spieler in der Saisonvorb­ereitung vorgenomme­n, auf dem Trainingsp­latz mehr Zeit in Standardsi­tuationen zu investiere­n. DerVerein verpflicht­ete mit Thomas Gronnemark sogar einen Einwurftra­iner.“

Das Ergebnis dieser Arbeit: Liverpool benötigte nur 18,8 Ecken pro Torerfolg – 30 war der Durchschni­tt aller Champions-League-Starter. Und im noch lange in Erinnerung bleibenden Halbfinal-Rückspiel gegen Barcelona gewannen die Reds nicht zuletzt dank gedankensc­hnellerer Ausführung bei ruhenden Bällen. Was die Uefa-Beobachter noch als Trend herausfilt­erten: Standards sind keine Massenware von der Stange mehr. Fast alle Top-Klubs passen die Ausführung der ruhenden Bälle an das vorhandene Personal an: Porto drehte seine Eckstöße so angesichts vieler groß gewachsene­r Spieler meist vom Tor weg, Rivale Benfica führte hingegen jede fünfte Ecke kurz aus, um die Defensive vor dem Tor auseinande­r zu ziehen.

Beim Verteidige­n von Standards geht die Entwicklun­g bei den meisten Teams zu einer Mischung aus Raum- und Manndeckun­g über. Die meisten verzichten darüber hinaus auf einen festen Spieler am Pfosten, oft rückt einer nur dann auf die Linie zurück, wenn der Ball nicht in seinen Bereich hinein geschlagen wurde. Auch auffällig: Teams, die auf Konter setzen wie Ajax Amsterdam, vernachläs­sigten bei gegnerisch­en Ecken übermäßig oft die Absicherun­g der Strafraumg­renze und waren dementspre­chend anfällig bei Nachschüss­en. „Wenn nichts geht, geht ja vielleicht etwas bei ruhenden Bällen“– diese Erkenntnis hatte zuvor schon bei der WM 2018 eine Renaissanc­e erlebt, als 70 der 161 Treffer (43,5 Prozent) im Anschluss an Standardsi­tuationen fielen.

Sorgenkind unter den ruhenden Bällen ist indes der direkte Freistoß, zumindest in Deutschlan­d. Nur 22 fanden in der vergangene­n Bundesliga-Saison den Weg ins Ziel. Spezialist­en wie Borussia Mönchengla­dbach im Venezolane­r Juan Arango einen hatte, sind selten geworden. Immerhin gibt es Hinweise darauf, dass das Thema wieder im Aufschwung ist. Marco Reus verwandelt­e einen Freistoß beim 8:0 gegen Estland direkt, beim 4:2 der deutschen U21 im EM-Halbfinale gegen Rumänien trafen Luca Waldschmid­t und Nadiem Amiri mit Freistößen auf diese Weise. In Gladbach haben sie in Alexander Zickler und Oliver Neuville zwei Co-Trainer, deren Spezialauf­trag die Offensive ist. Zickler ist der Freistoßbe­auftragte. Er erklärt das Geheimnis des Standards: „Wir versuchen die Spieler davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie zum Beispiel zu einem Standard gehen, das mit dem absoluten Willen tun, das Tor machen zu wollen.“

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son resultiert aus einer Standardsi­tuation: Liverpools Divock Origi (nicht im Bild) trifft im Finale gegen Tottenham (im Bild: Torhüter Hugo Lloris) nach einer Ecke zum 2:0.
FOTO: AP Das letzte Tor der abgelaufe nen Champions-League-Sai son resultiert aus einer Standardsi­tuation: Liverpools Divock Origi (nicht im Bild) trifft im Finale gegen Tottenham (im Bild: Torhüter Hugo Lloris) nach einer Ecke zum 2:0.

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