Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Standards von heute
Innovationen im Fußball verändern auch Eck- und Freistöße und bewahren so ihre zentrale Bedeutung für den Torerfolg.
DÜSSELDORF In Leverkusen können sie seit dem Wochenende ein Lied davon singen, wie wichtig ein Tor nach einem ruhenden Ball ist. Beziehungsweise: wie wichtig es gewesen wäre. 19 Eckstöße schlug das Team von Trainer Peter Bosz, doch Zählbares sprang gegen defensiv agierende Hoffenheimer nicht heraus. So warf dieses 0:0 ein Schlaglicht auf die Bedeutung von Toren nach Standards im heutigen Spitzenfußball. Und die ist ungebrochen – aus zwei Gründen. Für spielerisch unterlegene Teams ist es erfolgsversprechender, aus einer massiven Defensive zu agieren und ruhende Bällen als größte Chance auf ein eigenes Tor sehen. Und auf höchstem Niveau erkennen immer mehr Klubs, dass kreative Standards den Unterschied im Detail machen, wenn man auf Augenhöhe ist.
Beispiel Champions-League-Saison 2018/2019. Dort, wo die Besten Europas unter sich sind, ging die Zahl der Tore, die aus ruhenden Bällen entstanden, zwar leicht zurück, aber immer noch fällt auf diese Art und Weise fast jeder fünfte Treffer (18 Prozent). Die so genannten technischen Beobachter der Uefa haben nun bei ihrer Analyse der vergangenen Saison der Königsklasse festgestellt, dass sich Kreativität bei der und Investition in die Arbeit an Standardsituationen auszahlen kann. In Bezug auf den späteren Titelträger FC Liverpool heißt es im Uefa-Bericht: „Interessanterweise hatten sich Jürgen Klopp, seine Assistenten und die Spieler in der Saisonvorbereitung vorgenommen, auf dem Trainingsplatz mehr Zeit in Standardsituationen zu investieren. DerVerein verpflichtete mit Thomas Gronnemark sogar einen Einwurftrainer.“
Das Ergebnis dieser Arbeit: Liverpool benötigte nur 18,8 Ecken pro Torerfolg – 30 war der Durchschnitt aller Champions-League-Starter. Und im noch lange in Erinnerung bleibenden Halbfinal-Rückspiel gegen Barcelona gewannen die Reds nicht zuletzt dank gedankenschnellerer Ausführung bei ruhenden Bällen. Was die Uefa-Beobachter noch als Trend herausfilterten: Standards sind keine Massenware von der Stange mehr. Fast alle Top-Klubs passen die Ausführung der ruhenden Bälle an das vorhandene Personal an: Porto drehte seine Eckstöße so angesichts vieler groß gewachsener Spieler meist vom Tor weg, Rivale Benfica führte hingegen jede fünfte Ecke kurz aus, um die Defensive vor dem Tor auseinander zu ziehen.
Beim Verteidigen von Standards geht die Entwicklung bei den meisten Teams zu einer Mischung aus Raum- und Manndeckung über. Die meisten verzichten darüber hinaus auf einen festen Spieler am Pfosten, oft rückt einer nur dann auf die Linie zurück, wenn der Ball nicht in seinen Bereich hinein geschlagen wurde. Auch auffällig: Teams, die auf Konter setzen wie Ajax Amsterdam, vernachlässigten bei gegnerischen Ecken übermäßig oft die Absicherung der Strafraumgrenze und waren dementsprechend anfällig bei Nachschüssen. „Wenn nichts geht, geht ja vielleicht etwas bei ruhenden Bällen“– diese Erkenntnis hatte zuvor schon bei der WM 2018 eine Renaissance erlebt, als 70 der 161 Treffer (43,5 Prozent) im Anschluss an Standardsituationen fielen.
Sorgenkind unter den ruhenden Bällen ist indes der direkte Freistoß, zumindest in Deutschland. Nur 22 fanden in der vergangenen Bundesliga-Saison den Weg ins Ziel. Spezialisten wie Borussia Mönchengladbach im Venezolaner Juan Arango einen hatte, sind selten geworden. Immerhin gibt es Hinweise darauf, dass das Thema wieder im Aufschwung ist. Marco Reus verwandelte einen Freistoß beim 8:0 gegen Estland direkt, beim 4:2 der deutschen U21 im EM-Halbfinale gegen Rumänien trafen Luca Waldschmidt und Nadiem Amiri mit Freistößen auf diese Weise. In Gladbach haben sie in Alexander Zickler und Oliver Neuville zwei Co-Trainer, deren Spezialauftrag die Offensive ist. Zickler ist der Freistoßbeauftragte. Er erklärt das Geheimnis des Standards: „Wir versuchen die Spieler davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie zum Beispiel zu einem Standard gehen, das mit dem absoluten Willen tun, das Tor machen zu wollen.“