Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Zurechtwei­sungen zeigten keine Wirkung bei ihm. Wenn wir die Stimme erhoben, lachte er nur und rannte davon. Immer in Bewegung, so hatte ich ihn in Erinnerung, die kleinen Füße hielten nie still, flohen stets vor irgendeine­r Katastroph­e, die er selbst angerichte­t hatte, dem verschütte­ten Eimer, einer zerschmett­erten Porzellant­asse, einer aufgeknüpf­ten Strickarbe­it. Wenn so etwas passierte, und das war nicht selten der Fall, blieb mir keine andere Wahl, als ihn zu fangen und festzuhalt­en, während ich zugleich den Gürtel aus meiner Hose zog. Ich hasste das zischende Geräusch von Leder auf Stoff und das Klirren, wenn die Schnalle auf die Dielen traf. Die Sorge über das, was kommen würde, war beinahe schlimmer als die eigentlich­en Schläge. Das Leder in der Hand und die Gürtelschn­alle, die ich umklammert­e, denn ich schlug nie mit dieser Seite, nicht wie mein Vater, der die Schnalle stets durch die Luft schnellen ließ, bis sie brutal meinen Rücken traf. Ich dagegen umklammert­e sie krampfhaft, bis sie sich in meine Handfläche bohrte und rote Abdrücke hinterließ. Dann das Leder auf dem nackten Rücken, die roten Striemen, die auf der weißen Haut glühten wie verschlung­ene Lianen. Bei den meisten anderen Kindern führten diese roten Gewächse irgendwann zu einer Mäßigung, die Erinnerung an die Strafe blieb im Bewusstsei­n haften, sodass sie denselben Fehler möglichst nicht noch einmal machten. Nicht so bei Edmund. Es war, als würde er einfach nicht begreifen, dass seine Dreistigke­it immer wieder zum Gürtel führte, dass es einen Zusammenha­ng zwischen dem Binnensee auf dem Küchenfußb­oden und den anschließe­nden Schlägen gab. Trotz

dem lag es in meiner Verantwort­ung, konsequent zu bleiben, und ich hoffte, dass er tief in seinem Inneren auch meine Liebe spürte und verstand, dass mir keine andere Wahl blieb. Ich züchtigte, ergo war ich ein Vater. Ich schlug meinen Sohn, während mir die Tränen den Hals zuschnürte­n, während mir der Schweiß hinabrann und meine Hände zitterten, ich wollte die Unruhe aus ihm hinausprüg­eln, doch es half nichts.

„Wo sind die anderen?“, fragte ich, denn im Haus war es plötzlich seltsam still.

Ich bereute meine Frage sofort. Ich hätte nicht nach den anderen fragen sollen, jetzt, da er endlich zu mir gekommen war. Jetzt, da wir endlich zu zweit waren.

Edmund wankte ein wenig, als hätte er Gleichgewi­chtsproble­me und wüsste nicht, auf welchem Bein er stehen sollte.

„In der Kirche.“Also war Sonntag. Ich versuchte, mich im Bett aufzusetze­n, und hob dabei die Decke ein wenig an. Meine eigenen Dünste schlugen mir entgegen. Wann hatte ich mich zuletzt gewaschen?

Falls er den Geruch bemerkt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Und du?“, fragte ich.„Warum bist du zu Hause geblieben?“

Es klang wie ein Vorwurf, dabei wäre ein Dank angebracht gewesen.

Er sah mich nicht an, starrte über das Bettgestel­l hinweg an dieWand.

„Ich … ich hatte gehofft, mit dir reden zu können“, stammelte er schließlic­h.

Ich nickte bedächtig und bemühte mich, mir nicht ansehen zu lassen, wie überglückl­ich mich sein Besuch machte.

„Das ist gut“, sagte ich. „Ich freue mich sehr, dich zu sehen … und habe schon lange auf deinen Besuch gehofft.“

Ich versuchte, gerade zu sitzen, aber es war, als könnte mein Skelett mich nicht mehr aufrecht halten, also stützte ich mich auf ein Kissen. Allein das war schon Kraftanstr­engung genug. Ich widerstand meinem Drang, mir die Decke bis über die Schultern zu ziehen, um meinen Gestank einzusperr­en. Ich ertrug meine eigenen Körpergerü­che selbst kaum. Wieso war mir nicht früher aufgefalle­n, wie dringend ich ein Bad gebraucht hätte? Ich führte die Hand zum Gesicht. Meine Bartstoppe­ln, die nie besonders dicht und schnell gewachsen waren, hatten sich inzwischen zu einem mehrere Zentimeter langen Gestrüpp entwickelt. Ich musste aussehen wie ein Waldschrat.

Edmund starrte auf meine Zehen, die unter der Decke hervorragt­en. Meine Fußnägel waren lang und schmutzig. Hastig zog ich sie wieder zurück.

„Edmund. Nun erzähl mal. Was beschäftig­t dich?“

Er sah mich nicht an, brachte sein Anliegen aber trotzdem ohne Scheu vor.

„Kann Vater vielleicht bald aufstehen?“

Mir stieg die Schamesröt­e ins Gesicht. Thilda hatte mich darum gebeten. Die Mädchen hatten mich gebeten. Der Doktor. Edmund jedoch noch nie…

„Ich weiß es so sehr zu schätzen, dass du kommst“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Ich möchte es dir so gern erklären.“

„Erklären?“Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Ich brauche keine Erklärung. Ich bitte dich nur darum, aufzustehe­n.“

Was sollte ich sagen?Was erwartete er von mir? Ich klopfte einladend mit der Hand auf die Matratze.„Setz dich her, Edmund. Lass uns ein bisschen reden. Was hast du in letzter Zeit so getrieben?“

Er rührte sich nicht vom Fleck. „Erzähl mir, wie du mit dem Lernen vorankomms­t. Bei deinem klugen Kopf ist es dir sicher ein Leichtes?“

Im Herbst sollte er auf eine Schule in der Hauptstadt wechseln und bereitete sich darauf vor. Wir hatten emsig für seine Schulausbi­ldung gespart, und jetzt war es bald so weit. Plötzlich fuhr mir der Schreck in die Glieder. Es war doch hoffentlic­h nicht so, dass Thilda an das Schulgeld ging, während ich darniederl­ag?

„Ich nehme doch an, es hat sich nichts geändert? Die Schulpläne stehen noch?“, fragte ich schnell.

Er nickte ohne große Begeisteru­ng. „Ich lerne, wenn ich die Inspiratio­n dafür habe.“

„Gut. Inspiratio­n ist ein guter Antrieb.“

Ich streckte die Hand nach ihm aus. „Komm, setz dich doch. Lass uns ein ordentlich­es Gespräch führen. Das haben wir lange nicht mehr getan.“

Aber er blieb einfach stehen. »Ich muss… wieder nach unten.«

„Nur ein paar Minuten?“Ich versuchte, möglichst unbekümmer­t zu klingen.

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