Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Geschichte der Bienen
Zurechtweisungen zeigten keine Wirkung bei ihm. Wenn wir die Stimme erhoben, lachte er nur und rannte davon. Immer in Bewegung, so hatte ich ihn in Erinnerung, die kleinen Füße hielten nie still, flohen stets vor irgendeiner Katastrophe, die er selbst angerichtet hatte, dem verschütteten Eimer, einer zerschmetterten Porzellantasse, einer aufgeknüpften Strickarbeit. Wenn so etwas passierte, und das war nicht selten der Fall, blieb mir keine andere Wahl, als ihn zu fangen und festzuhalten, während ich zugleich den Gürtel aus meiner Hose zog. Ich hasste das zischende Geräusch von Leder auf Stoff und das Klirren, wenn die Schnalle auf die Dielen traf. Die Sorge über das, was kommen würde, war beinahe schlimmer als die eigentlichen Schläge. Das Leder in der Hand und die Gürtelschnalle, die ich umklammerte, denn ich schlug nie mit dieser Seite, nicht wie mein Vater, der die Schnalle stets durch die Luft schnellen ließ, bis sie brutal meinen Rücken traf. Ich dagegen umklammerte sie krampfhaft, bis sie sich in meine Handfläche bohrte und rote Abdrücke hinterließ. Dann das Leder auf dem nackten Rücken, die roten Striemen, die auf der weißen Haut glühten wie verschlungene Lianen. Bei den meisten anderen Kindern führten diese roten Gewächse irgendwann zu einer Mäßigung, die Erinnerung an die Strafe blieb im Bewusstsein haften, sodass sie denselben Fehler möglichst nicht noch einmal machten. Nicht so bei Edmund. Es war, als würde er einfach nicht begreifen, dass seine Dreistigkeit immer wieder zum Gürtel führte, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Binnensee auf dem Küchenfußboden und den anschließenden Schlägen gab. Trotz
dem lag es in meiner Verantwortung, konsequent zu bleiben, und ich hoffte, dass er tief in seinem Inneren auch meine Liebe spürte und verstand, dass mir keine andere Wahl blieb. Ich züchtigte, ergo war ich ein Vater. Ich schlug meinen Sohn, während mir die Tränen den Hals zuschnürten, während mir der Schweiß hinabrann und meine Hände zitterten, ich wollte die Unruhe aus ihm hinausprügeln, doch es half nichts.
„Wo sind die anderen?“, fragte ich, denn im Haus war es plötzlich seltsam still.
Ich bereute meine Frage sofort. Ich hätte nicht nach den anderen fragen sollen, jetzt, da er endlich zu mir gekommen war. Jetzt, da wir endlich zu zweit waren.
Edmund wankte ein wenig, als hätte er Gleichgewichtsprobleme und wüsste nicht, auf welchem Bein er stehen sollte.
„In der Kirche.“Also war Sonntag. Ich versuchte, mich im Bett aufzusetzen, und hob dabei die Decke ein wenig an. Meine eigenen Dünste schlugen mir entgegen. Wann hatte ich mich zuletzt gewaschen?
Falls er den Geruch bemerkt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Und du?“, fragte ich.„Warum bist du zu Hause geblieben?“
Es klang wie ein Vorwurf, dabei wäre ein Dank angebracht gewesen.
Er sah mich nicht an, starrte über das Bettgestell hinweg an dieWand.
„Ich … ich hatte gehofft, mit dir reden zu können“, stammelte er schließlich.
Ich nickte bedächtig und bemühte mich, mir nicht ansehen zu lassen, wie überglücklich mich sein Besuch machte.
„Das ist gut“, sagte ich. „Ich freue mich sehr, dich zu sehen … und habe schon lange auf deinen Besuch gehofft.“
Ich versuchte, gerade zu sitzen, aber es war, als könnte mein Skelett mich nicht mehr aufrecht halten, also stützte ich mich auf ein Kissen. Allein das war schon Kraftanstrengung genug. Ich widerstand meinem Drang, mir die Decke bis über die Schultern zu ziehen, um meinen Gestank einzusperren. Ich ertrug meine eigenen Körpergerüche selbst kaum. Wieso war mir nicht früher aufgefallen, wie dringend ich ein Bad gebraucht hätte? Ich führte die Hand zum Gesicht. Meine Bartstoppeln, die nie besonders dicht und schnell gewachsen waren, hatten sich inzwischen zu einem mehrere Zentimeter langen Gestrüpp entwickelt. Ich musste aussehen wie ein Waldschrat.
Edmund starrte auf meine Zehen, die unter der Decke hervorragten. Meine Fußnägel waren lang und schmutzig. Hastig zog ich sie wieder zurück.
„Edmund. Nun erzähl mal. Was beschäftigt dich?“
Er sah mich nicht an, brachte sein Anliegen aber trotzdem ohne Scheu vor.
„Kann Vater vielleicht bald aufstehen?“
Mir stieg die Schamesröte ins Gesicht. Thilda hatte mich darum gebeten. Die Mädchen hatten mich gebeten. Der Doktor. Edmund jedoch noch nie…
„Ich weiß es so sehr zu schätzen, dass du kommst“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Ich möchte es dir so gern erklären.“
„Erklären?“Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
„Ich brauche keine Erklärung. Ich bitte dich nur darum, aufzustehen.“
Was sollte ich sagen?Was erwartete er von mir? Ich klopfte einladend mit der Hand auf die Matratze.„Setz dich her, Edmund. Lass uns ein bisschen reden. Was hast du in letzter Zeit so getrieben?“
Er rührte sich nicht vom Fleck. „Erzähl mir, wie du mit dem Lernen vorankommst. Bei deinem klugen Kopf ist es dir sicher ein Leichtes?“
Im Herbst sollte er auf eine Schule in der Hauptstadt wechseln und bereitete sich darauf vor. Wir hatten emsig für seine Schulausbildung gespart, und jetzt war es bald so weit. Plötzlich fuhr mir der Schreck in die Glieder. Es war doch hoffentlich nicht so, dass Thilda an das Schulgeld ging, während ich darniederlag?
„Ich nehme doch an, es hat sich nichts geändert? Die Schulpläne stehen noch?“, fragte ich schnell.
Er nickte ohne große Begeisterung. „Ich lerne, wenn ich die Inspiration dafür habe.“
„Gut. Inspiration ist ein guter Antrieb.“
Ich streckte die Hand nach ihm aus. „Komm, setz dich doch. Lass uns ein ordentliches Gespräch führen. Das haben wir lange nicht mehr getan.“
Aber er blieb einfach stehen. »Ich muss… wieder nach unten.«
„Nur ein paar Minuten?“Ich versuchte, möglichst unbekümmert zu klingen.