Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Geschichte der Bienen
Die Arbeit hielt mich vom Schlafen ab. Hier draußen im Schuppen, wo die Sägespäne wie Schneeflocken durch die Luft wirbelten, überkam mich die Müdigkeit nicht so stark wie im Haus. Beim wütenden Kreischen der elektrischen Säge konnte man sowieso unmöglich einschlafen. Normalerweise benutzte ich einen Gehörschutz, aber jetzt nahm ich ihn ab, und der Lärm erfüllte meinen Kopf. Für etwas anderes war dort gerade sowieso kein Platz.
Ich merkte nicht, wie Emma hereinkam. Vielleicht hatte sie schon lange so dagestanden und mich betrachtet. Immerhin hatte sie die Zeit gehabt, einen Gehörschutz aufzusetzen. Ich entdeckte sie, als ich mich umdrehte, um weitere Latten zu holen. Sie stand einfach nur mit dem großen, gelben Ohrenschutz auf dem Kopf im Raum und lächelte. Ich schaltete die Säge aus. „Hallo?“
Sie zeigte auf ihren Gehörschutz und schüttelte den Kopf. Ach so. Sie konnte mich nicht hören. So blieben wir eine Weile stehen. Sie hörte nicht auf zu lächeln. Es war unmissverständlich, dieses Lächeln. Heutzutage waren die Wechseljahre ein großes Thema, die Frauen unterhielten sich flüsternd darüber, wenn sie glaubten, wir würden sie nicht hören, über Hitzewallungen, Harndrang, nächtliches Schwitzen und ja, auch das bekamen wir mit: verminderte Lust. Aber Emma war so wie immer. Und jetzt stand sie dort mit ihrem Gehörschutz, und es war unschwer zu erkennen, was sie von mir wollte.
Das letzte Mal war schon lange her gewesen, jedenfalls für unsere Verhältnisse. Noch vor Toms Besuch. Wenn er im Haus war, wur
den wir schüchtern, aus Angst, er könnte uns hören, als wäre er immer noch der kleine Knopf, der in unserem Zimmer schlief. Sobald wir ins Bett gingen, begannen wir zu flüstern. Bewegten uns vorsichtig, legten uns gleich unter die Decke und blätterten leise in unseren Büchern. Und später, nachdem er sich auf den Heimweg gemacht hatte, war es einfach kein Thema gewesen. Ich hatte nicht einmal daran gedacht.
Sie legte die Arme um mich, schloss die Augen und küsste mich auf den Mund.
„Ich weiß nicht …“, sagte ich. Mein Körper war steif und schwerfällig, ich hatte keinen Schwung. „Ich bin ein bisschen müde.“
Sie lächelte nur und zeigte wieder auf den Gehörschutz.
Ich versuchte, ihn ihr abzunehmen, aber sie lenkte meine Hand weg.
So blieben wir stehen. Ich hielt ihre Hand. Sie lächelte beharrlich.
„Okay.“Ich nahm mir auch einen Gehörschutz. „Ist es das, was du willst?“
Aus irgendeinem Grund erwachte ich zu neuem Leben, nachdem ich ihn aufgesetzt hatte. Es war nicht still darunter, es war nie still, wenn man alles andere aussperrte. Das Rauschen des Gehirns, die eigenen Atemzüge, die Herzschläge, all das drängte sich in den Vordergrund.
Wir küssten uns, ihre Zunge war sanft, ihr Mund offen und warm, ich packte sie an den Hüften und setzte sie auf meine Hobelbank. Jetzt befanden sich unsere Köpfe auf selber Höhe. Die Luft war kalt, meine Finger waren wie Eiszapfen auf ihrer Haut. Sie zuckte zusammen, wich jedoch nicht zurück. Ich probierte, in meine Hände zu pusten, aber es half wohl nicht viel, denn sie schauderte, als ich sie unter ihren Pullover schieben wollte. Sie lehnte sich auf der Bank zurück, während ihre Beine in der Luft baumelten. Ich küsste ihren Bauch, aber sie schob meinen Kopf nach unten. Als meine Zunge sie berührte, erzitterte sie. Vielleicht stöhnte sie auch, aber ich hörte es nicht.
Dann legten wir uns beide auf die Bank, ich unten, sie oben. Es dauerte nicht lange, dafür war es zu kalt, und das Holz unter meinen Schulterblättern zu hart.
Anschließend nahm sie den Gehörschutz ab, schlüpfte wieder in ihre Hose und zog sie hoch. Noch bevor ich etwas sagen konnte, war sie gegangen.
Aber die Wärme ihres Körpers blieb, sie hing in der Luft über der Hobelbank.
Da war es wieder. Gulf Harbors. Die beiden Wörter wollten nicht verschwinden, spukten weiter in meinem Gehirn herum, Gulf Harbors, wurden durchgeknetet wie ein Teig, Gulf Harbors, Harb Gulfors, Bors Gulfharb, ich schüttelte heftig den Kopf, wollte sie loswerden, aber sie waren trotzdem noch da, Gulf Borsharb, Bors Harbgulf, Harb Forsgulf.
Dort war es jetzt warm. Ich hatte gestern heimlich den Wetterbericht verfolgt. Ich weiß nicht warum, ich war einfach nur zufällig auf die landesweite Vorhersage gestoßen und sitzen geblieben, bis Tampa dran war. Zu dieser Jahreszeit war, wie ich sehen konnte, mit wenig Niederschlag zu rechnen. Während hier immer noch nasskalter Frühling war, herrschte dort bereits ein Traumsommer. Leben im Freien. Grillen. Delphine. Seekühe.
Gulf Harbors.
Die Wörter hatten sich unwiderruflich festgesetzt, ich wurde sie nicht wieder los. Also durften sie
Gulf Harbors.
bleiben.
Emma war eine Klasse für sich. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich sie hatte. Was auch passierte. Das würde sich nie ändern, selbst wenn wir nach Florida zögen.
Tao
Dann kam endlich der Ruhetag. Unangemeldet, wie jedes Jahr. Erst amVorabend hatte das Komitee seinen Beschluss bekanntgegeben, die Bevölkerung habe sich endlich einen freien Tag verdient. Das wurde von Li Xiara verkündet, der Vorsitzenden des Komitees. Eine Frau, die uns ständig die neuesten Beschlüsse verlas, über das Radio oder auf zerkratzten Infoschirmen. Ihre sonore Stimme klang immer gleich, egal, ob die Botschaft ans Volk gut oder schlecht war. Die Bestäubung sei abgeschlossen, vermeldete sie nun, und die Blütezeit bald vorbei. Sie könnten uns das gönnen, sagte sie, wir, die Gemeinschaft, könne es sich gönnen.
Wir hatten schon seit Wochen auf diesen Tag gehofft, der letzte freie Tag war über zwei Monate her gewesen. Während sich unsere Sehnenscheiden vom immer gleichen Pinselstrich entzündeten, während unsere Arme und Schultern immer steifer wurden und unsere Füße immer müder, arbeiteten wir weiter und warteten.