Rheinische Post Krefeld Kempen
Auch ich bin gegangen
ESSAY Wer den Osten Deutschlands betrachtet, blickt auf jahrzehntelange Abwanderung. Unser Autor ist einer derjenigen, die gingen. Anlässlich des Mauerfall-Jubiläums fragt er sich: Was, wenn ich nicht gegangen wäre?
Uns fehlt im Osten eine ganze Generation.“Mit diesem Satz meinte die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping vermutlich auch mich. Gesagt hat sie ihn in einem Interview Ende August 2018, kurz nach den Krawallen in Chemnitz, die den Osten wieder einmal als Hort rechtsextremen Gedankenguts in den Fokus rückten.
Ich bin Jahrgang 1990, aufgewachsen in Leipzig, der Stadt der friedlichen Revolution. Heute lebe ich in Düsseldorf, bin Redakteur und arbeite für ein Medium mit dem Slogan „Stimme des Westens“. In diesen Tagen sprechen wir häufig über das fantastische Jubiläum, das wir in diesem November feiern:
30 Jahre Mauerfall. Ich frage mich aber auch:
Was, wenn ich nicht gegangen wäre? Wenn ich meiner Heimat nicht den Rücken gekehrt und gen Westen gezogen wäre?
Das war 2008, direkt nach dem Abitur.
Ich ging damals auch, weil ich – anders als meine Eltern – die Wahl hatte. Die offenen Grenzen, für die die Generation meiner Eltern unter großem Risiko auf die Straßen gegangen war: Ich konnte sie nutzen. Ganz selbstverständlich. Seit jeher war das für mich ein Privileg. Eines, das ich nicht liegen lassen wollte. Und damit war ich nicht der Einzige.
Wer den Osten, also das Gebiet der ehemaligen DDR, als Ganzes betrachtet, Magneten wie Berlin oder Leipzig einmal ausgenommen, blickt auf eine jahrzehntelange Geschichte der Abwanderung. Auch wenn ich nicht viel davon halte, Ostdeutschland als homogene Masse zu betrachten – schließlich haben die Mecklenburger wenig mit den Thüringern gemein –, verbindet dieses demografische Phänomen die ostdeutschen Flächenländer. Nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben sie von 1990 bis 2016 mehr als 1,2 Millionen Bürger an den Westen verloren. Die Folge: ganze Landstriche, die wir heute als „strukturschwache Regionen“kennen. Geringe Bevölkerungsdichte, geringe Wirtschaftsleistung, hohe Arbeitslosigkeit. Zwar gilt 2017 als das Jahr, in dem sich der Trend der Abwanderung zum ersten Mal umkehrte und mehr Menschen erstmals wieder vomWesten in den Osten zogen. Nicht jedoch die Jungen: Bei den 18- bis 29-Jährigen verliert der Osten weiter. Diejenigen, die eigentlich die Zukunft der ostdeutschen Länder sichern sollten. Menschen wie ich, als ich 2008 ging.
Doch abseits dieser Zahlen: Was mir näher geht, ist das Gefühl der Abgehängtheit, das ich kenne. Und das hat seineWurzeln noch woanders. Sicher, es gab den Aufbau Ost. Zum Glück! Nach 1990 wurden Autobahnen gebaut und saniert, neue Gebäude in den Innenstädten hochgezogen, große Firmen haben sich angesiedelt. Doch es klafft weiter eine Lücke, und die hat etwas mit Stolz zu tun. In den vergangenen Jahren war ich häufiger in Baden-Württemberg. Dort habe ich kennengelernt, was Mittelstand wirklich heißt: über Generationen gewachsene Familienbetriebe, häufig international tätig, trotzdem vor Ort verwurzelt, sich ständig neu erfindend und dabei das Erbe bewahrend. Dort ist die Welt wirklich noch ein bisschen in Ordnung. Dort weiß man, was man hat – und was man ist.
Und die Menschen im Osten? Ihnen fehlt dieses Eigene. Der Stolz auf Firmen, die über Generationen gewachsen sind, selbst Kriege überdauert haben. Arbeit hat nicht zuletzt etwas mit Sinnstiftung zu tun – und auf erfolgreiche Wirtschaft aus den eigenen Reihen ist eine Region stolz. Bloß: Diese Firmen gibt es so gut wie gar nicht im Osten. Ja, es gibt Rotkäppchen. Sicher, auch die Spreewaldgurken sind dem Osten erhalten geblieben. Aber ein florierender Mittelstand wie im Schwarzwald? Fehlanzeige. Viele alte Betriebe hatten erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu leiden, wurden dann in der DDR durch die Planwirtschaft gebeutelt – die von der BRD eingesetzte Treuhand nach der Wiedervereinigung war dann das Ende vieler ehemals florierender Ost-Firmen. Dieses Bild mag überzeichnet sein, auch längst nicht in jedem Fall stimmen – es ist aber die Realität, die viele Menschen im Osten Deutschlands fühlen. Und in genau diese Leere springen die Populisten, die mit ihren Parolen ein neues stolzes „Wir“versprechen.
Die Brüche in den Lebensläufen, die verlorenen Jobs: Sie sind bei vielen Menschen, die dieWende miterlebt haben, nicht vergessen. Längst nicht alle waren so mutig wie meine Eltern, die beide ihren Job bei einem großen Verlag verloren, aber nicht verzagten, sondern in den Jahren nach 1990 auf Risiko gingen und sich selbstständig machten. Ostdeutsche Lebensleistungen, die für eine echte Wende stehen.
Die Mauer fiel vor 30 Jahren, zu meinen Lebzeiten stand sie nie. Doch die Unterschiede zwischen Ost und West begleiten mich. „Die Wessis“waren in meiner Vorstellung als Kind vor allem reich, natürlich mit dickem Auto. Doch diese Klischees sind keine Vergangenheit, auch nicht umgekehrt: Ob Bananenwitze oder Geraune über „Dunkeldeutschland“– ich höre sie heute noch zu Genüge.
Was, also, wenn ich nicht gegangen wäre? Die Antwort ist, was den Osten insgesamt betrifft, so einfach wie die Frage vermessen ist: Natürlich wäre die Situation dort nicht anders, nur weil ich nicht gegangen wäre.Was aber mich persönlich betrifft: Mein Leben sähe anders aus. Ich hätte bestimmt auch gut studiert und jetzt mit etwas Glück einen Job, der mir Freude macht. Die Freiheit, die mir die Generation meiner Eltern geschenkt hat, voll auszuleben – diese bereichernde Erfahrung hätte ich aber nicht gemacht.
Doch wie schaffen wir es, dass sich in Zukunft junge Menschen die Frage, mit der sich dieser Text beschäftigt, gar nicht erst mehr stellen? Zunächst braucht es vermutlich handfeste Förderprogramme, die es Menschen in Ostdeutschland erlauben, zu gründen und Werte zu schaffen. Gleichzeitig brauchen wir mehr Ostdeutsche, die Verantwortung bekommen. Dass im Februar keine einzige Führungskraft der 81 deutschen öffentlichen Unis aus einem ostdeutschen Bundesland stammte, ist Ausdruck des Ungleichgewichts, gegen das auch „wir Wessis“ankämpfen sollten.
Wer mich heute fragt, ob ich mich noch als Ostdeutscher fühle, dem sage ich: Nein, ich bin Deutscher – aber mit deutsch-deutschem Migrationshintergrund. Das klingt kompliziert und unlogisch. Doch genau das sind Identitäten und Lebensläufe: häufig kompliziert und hin und wieder ein bisschen unlogisch. Auch für Deutsche.