Rheinische Post Krefeld Kempen
Türkische Militäraktion bringt Nato und EU in Bedrängnis
BERLIN 200.000 Männer, Frauen und Kinder sind auf der Flucht, Hunderte inhaftierte IS-Kämpfer brechen aus Gefängnissen aus, die USA ziehen sich als Verbündete der Kurden zurück, die sich nun von Syriens Präsident Baschar al Assad helfen lassen, die Nato ist in Bedrängnis und die EU gespalten – das sind bislang die desaströsen Folgen der vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestarteten Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien.
Alle Appelle, auch die von Kanzlerin Angela Merkel, zum Stopp des Militäreinsatzes prallen an Erdogan ab. Merkels Sprecher Steffen Seibert sagte, die Türkei habe berechtigte Sicherheitsinteressen, aber ihr Vorgehen führe nicht zu mehr Sicherheit, sondern zur weiteren Destabilisierung der Region. Er sprach von einem möglichen „Kollateralproblem“, dass die Terrororganisation Islamischer Staat, die beinahe schon besiegt worden sei, aufs Neue erstarken könne. Das Auswärtige Amt sieht den Einmarsch völkerrechtlich nicht legitimiert.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte beim Treffen mit seinen EU-Amtskollegen am Montag in Luxemburg, sollte das Nato-Mitglied Türkei von Syrien angegriffen werden, könne sich das transatlantische Militärbündnis mit dem sogenannten Bündnisfall konfrontiert sehen.
Die Türkei startete mit Unterstützung arabisch-syrischer Rebellen eine Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG. Ankara sieht in der YPG einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Assad schickte daraufhin Regierungssoldaten zur Unterstützung der Kurden, auch Russland bot seine Hilfe an, was die Kurden nach dem Rückzug der USA als „schmerzhaften Kompromiss“akzeptierten.
Asselborn sagte, damit gebe es eine Koalition zwischen den Truppen von Assad und den Kurden. Das bedeute, dass ein Nato-Mitglied – die Türkei – gegen Assad kämpfen könnte.Werde die Türkei von Syrien oder Alliierten Syriens angegriffen, könne das den Beistandsfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages berühren. Danach ist ein bewaffneter Angriff gegen einen Bündnispartner ein Angriff gegen alle Nato-Mitglieder, die dem betroffenen Land Beistand leisten müssten.
Die EU kann sich unterdessen nicht auf ein allgemeines Waffenembargo gegen die Türkei einigen. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen verlangt von der Bundesregierung, jegliche Waffenlieferungen an Ankara zu unterbinden. Das Verhalten der Türkei sei eine völkerrechtswidrige Aggression auf fremdem Territorium. „Ich bin dafür, Waffenlieferungen an die Türkei zu suspendieren und nicht nur keine neuen Genehmigungen zu erteilen“, sagt er unserer Redaktion.
Der SPD-Außenpolitiker Martin Schulz geht noch weiter: „Kurzfristig muss Erdogan durchWirtschaftssanktionen zu spüren bekommen, dass wir Europäer uns seiner Gewalteskalation widersetzen. Darüber hinaus sollte die Suspendierung aller wirtschaftlichen Kooperationsabkommen mit der Türkei ernsthaft geprüft werden, inklusive der Zollunion.“Das SPD-geführte Außenministerium erklärt, man sei „noch nicht am Ende der diplomatischen Möglichkeiten angekommen“.