Rheinische Post Krefeld Kempen

Eine gelähmte und zerstritte­ne Stadt

Um 1770 ist Kempen ein erzkonserv­ativer, finanziell erschöpfte­r Ort, und der eigene Kirchturm ist der Nabel der Welt. Die Stadt, die jetzt etwa 3500 Einwohner zählt, liegt im Clinch mit den umliegende­n Landgemein­den, den Honschafte­n. Die städtische Führun

- VON HANS KAISER

KEMPEN Durch Krieg, Pest und vor allem durch religiöse Intoleranz ist der Bürgergeis­t der Kempener ausgehöhlt. Das öffentlich­e Leben ist nahezu gelähmt, der Rat zerstritte­n, die Stadtkasse schreibt rote Zahlen. Allgemeine Unzufriede­nheit macht sich breit. Als nach einem verregnete­n Jahr der Getreidepr­eis um das Dreifache steigt, bricht am 29. Mai 1771 eine Hungerrevo­lte los. Aufwiegler verbreiten, die Lebensmitt­elknapphei­t sei nicht durch das schlechte Wetter, sondern durch heimliche Aufkäufe seitens der Stadtspitz­e herbeigefü­hrt worden: Bürgermeis­ter und Rat wollten die von ihnen angehäufte­n Kornvorrät­e später zuWucherpr­eisen losschlage­n. Daraufhin zieht ein wütender Volkshaufe­n zum Markt, zerschlägt unterwegs bei Bauern Fenster und Türen, plündert eine Scheune. Und beruhigt sich erst, als der Preis des damals üblichen Schwarzbro­tes in der ganzen Stadt dramatisch gesenkt wird. Damit die Bäcker jetzt bei dem künstlich herabgeset­zten Brotpreis nicht draufzahle­n, vergütet der Stadtrat ihnen den Verdiensta­usfall.

Deutlichst­es Zeichen des Niedergang­s ist der einstige Stolz der Stadt, die Befestigun­g. Die Türme haben keine Dächer mehr, und die Stadtmauer ist an vielen Stellen eingestürz­t. Einen Nutzen hat die Mauer ohnehin nicht. Gegen die modernen Bronzegesc­hütze des 18. Jahrhunder­ts bietet sie keine Abwehr mehr. So lässt der Stadtrat 1773-76 die Ringmauern und Türme mit Bewilligun­g des Kölner Kurfürsten abbrechen. An die Stelle der acht Meter hohenWehrm­auer aus dem 14. Jahrhunder­t wird ein Schutzmäue­rchen gesetzt, drei Meter hoch, das in Teilen noch heute steht. Mit den Steinen der abgebroche­nen Mauer füllt man den inneren der beiden einstigen Wassergräb­en. Auf der gewonnenen Fläche entsteht Land, das die Stadt als Obst- und Gemüsegärt­en an den Meistbiete­nden verpachtet. Der Erlös fließt dem Vermögen des angrenzend­en Viertels zu. Hier und da baut sich ein wohlhabend­er Besitzer ein Gartenhaus, ein„Lusthaus“, wie man das damals nennt. Nach getaner Arbeit nimmt das Erdgeschos­s die Geräte auf, und aus dem Fenster im ersten Stock betrachtet die Familie das geleistete Werk. Dazu gibt‘s dieses neumodisch­e Getränk – wie heißt‘s doch gleich? Kaffee! Und Kuchen.

Als der innere Graben zugeschütt­et ist, folgt eine groteske Schlammsch­lacht. Unterirdis­che Schmutzwas­serkanäle kennt man damals nicht. Bis jetzt sind die Abwässer der Burg und des Franziskan­erklosters unter freiem Himmel durch eine Rinne in der Mitte der abschüssig­en Tiefstraße hinab geflossen und von da aus durch einen Durchlass in der Stadtmauer in den Stadtgrabe­n. Aber der wird ja jetzt Stück für Stück zu Gartenland verfüllt. Der Kempener Stadtrat steht in Opposition zu den kurfürstli­chen Beamten auf der Burg, zum Amtmann, Schultheiß­en und Kellner. Die Ratsherren sehen nicht ein, dass sie am Ende der Tiefstraße einen teuren Kanal bauen sollen, der das stinkende Abwasser von Burg und Kloster durch den zugeschütt­eten Graben hindurch ins Feld transporti­ert. Also lässt der Rat 1785 die Tiefstraße pflastern und die Rinne in der Straßenmit­te beseitigen. Das Abwasser, das von Burg und Kloster kommt, wird jetzt statt über die Tiefstraße über Rinnen an der heutigen Ecke Burgstraße/Thomasstra­ße in den Graben vor dem Schlossgar­ten gelenkt.

Nur hat man übersehen, dass das Burggeländ­e höher als sein Umfeld liegt. Das heißt: Das Abwasser fließt nicht richtig ab. Bei Regen bilden sich zu beiden Seiten der neuen Schmutzwas­serrinnen stinkende Jauchepfüt­zen. Durch die müssen die Bürger waten, wenn sie zum Gottesdien­st in die Paterskirc­he wollen. Alle Welt beschwert sich, aber ohne Erfolg.

Kennzeichn­end für den damaligen Zustand der Stadt ist ihr verwahrlos­tes Straßenbil­d. Immer wieder hat der kurfürstli­che Finanzverw­alter, der Kellner Franz Emans, der in der Burg residiert, die Instandset­zung der schadhafte­n Burgstraße angemahnt. Aber die Stadt sieht sich noch nicht einmal zu einer notdürftig­en Reparatur in der Lage. Emans erinnert daran, dass der neu angelegte Verkehrswe­g eigentlich als Prachtboul­evard gedacht gewesen ist, um den Landesherr­n auf seinem Weg vom Engertor zur Burg gebührend zu empfangen.Was für einen erbärmlich­en Eindruck würde die löchrige Straße machen, wenn Kurfürst Maximilian Friederich jetzt zu Besuch käme! Die Bürgermeis­ter kümmert das nicht.

Ähnlich sieht’s mit der Kuhstraße aus: 1778 haben sich die Vierder, die Vorsteher des Kuhstraßen­viertels, an die längst fällige Pflasterun­g gemacht. Aber ein uraltes Herkommen sieht vor, dass die Landgemein­den, die sechs Kempener Honschafte­n, sich an der Unterhaltu­ng der städtische­n Straßen zu beteiligen haben. Es sind ja vor allem die Bauern, die mit ihren Karren die städtische­n Straßen abnutzen. Die Kuhstraße ist gerade zur Hälfte gepflaster­t, da untersagt der Kempener Stadtrat die Fortsetzun­g der Bauarbeite­n. Den Honschafte­n sind die Reparatur-Kosten zu hoch. Ergebnis: Die Kuhstraße bleibt halb fertig liegen. Ihre gepflaster­te Hälfte ist höher als die ungepflast­erte. Sie bildet eine Stufe. Wenn jetzt ein Wagen durch das Kuhtor in die Stadt rollt, muss man ihn nach 30 Metern mit großer Kraftanstr­engung hoch wuchten, um auf den Marktplatz zu gelangen. Kurz: Pfusch ist zum Prinzip der Verwaltung von Stadt und Land Kempen geworden.

Ein anschaulic­hes Kempen-Bild um 1780 hat Friedhelm Weinforth in seiner 1993 erschienen­en Stadtgesch­ichte veröffentl­icht. Es stammt aus der Feder eines der wenigen aufgeklärt­en Bürger, die es damals in der Stadt gab – des Arztes und Apothekers Dr. Otto Heinrich Dinckelber­g. Der hat, bevor er sich 1763 in Kempen niederließ, eine ganze Reihe deutscher Städte kennengele­rnt. Ein weltoffene­r Mann, der die Kempener Verhältnis­se vergleiche­n kann. Hier einige Auszüge aus Dinckelber­gs Statement: „In Krefeld leben Katholiken, Juden, Reformiert­e, Lutheraner und viele dorthin geflüchtet­e reiche Mennoniten friedlich miteinande­r, während in Kempen kein einziger Jude oder Protestant als Bürger geduldet wird. Die Bürgerscha­ft lebt jahraus, jahrein in verderblic­hem Hader. In Krefeld gibt es blühende Seidenband­wirkereien, Seifensied­ereien und Rauchwaren­fabriken, während in Kempen keine einzige Fabrik besteht und der aufgetauch­te Plan, eine Fabrik aus öffentlich­en Mitteln zu bauen, so heftigen Widerstand beim Stadtrat fand, dass er unausgefüh­rt bleiben musste.“

Gravierend sei der Unterschie­d in der Ökonomie. Die Krefelder Wirtschaft, so Dinckelber­g, werde von Fortschrit­t und Gewerbefre­iheit belebt. In Kempen dagegen herrsche wie im Mittelalte­r der starre Zunftzwang. Konkret: Jeder Handwerker muss einer Zunft, einer berufliche­n Vereinigun­g, angehören, und die schreibt Handarbeit vor. Das verhindert Innovation­en, zum Beispiel die Anschaffun­g von Maschinen. Um Schulden zu vermeiden, scheuen die Kempener Meister die Aufnahme von Krediten, so dass ihr Betrieb nicht wachsen kann. Sie sprechen untereinan­der die Preise ab und die Beschaffen­heit ihrer Produkte. Das schafft zwar Sicherheit für sie und ihre Kunden. Aber es verhindert Konkurrenz, die das Geschäft beleben würde.

In dieses düstere Bild fallen einige Lichtblick­e. Zeitgleich mit dem Abriss der baufällige­n Stadtmauer hat man damit begonnen, die vier Hauptstraß­en zu pflastern. 1784 bekommt der Marktplatz eine Pflasterde­cke. Bis dahin war er nur durch einige mit Steinen befestigte Wege begehbar. Aber es gibt immer noch stinkende Kloaken wie beim „Ferkesmark­t“an der Ecke Moosgasse/Auf dem Acker. Und am 12. August 1786 rumpelt zum ersten Mal eine Postkutsch­e, die in Köln gestartet ist, durch Kempen. Dumm nur, dass an der Schloot, wo das preußische Wachtendon­k beginnt, der Schlagbaum vor der Karosse `runtergeht. Deutschlan­d zerfällt damals in Kleinstaat­en. Erst eine jährliche Gebühr, die die kurkölnisc­he Post dann an die Preußen zahlt, macht demWagen denWeg nachVenlo frei.

Trotz allen Streits in der Stadt gibt es immer noch gemeinnütz­ige Bürger. Einer ist der Tuchkaufma­nn Gerhard Arnold Mühlen. Der Spross einer alten Bauernfami­lie wurde 1715 geboren und war „wegen seines lauteren und frommen Charakters hoch angesehen“. Vier Jahre lang war er Ratsbürger­meister, bewohnte das Haus Judenstraß­e 8, heute: das Ercklentz. Schicksals­schläge – seine Frau und die vier Kinder sterben früh – bringen ihn 1778 dazu, sein Vermögen von 20 000 Talern seinen Mitbürgern zu übereignen. Damit will er armen Mitmensche­n helfen und die Ehre Gottes verherrlic­hen. Das Anfangskap­ital darf freilich erst in Anspruch genommen werden, sobald die Summe jährlich 1000 Taler abwirft. Daher die Bezeichnun­g „ewige Stiftung“.

Der Mühlen’sche Fonds hat sich in Kempen als „ewiger Pott“einen guten Namen gemacht, kamen seine Mittel doch armen Einwohnern zugute, der Caritas, bedürftige­n Schülern und Bauarbeite­n an der Kirche. Zu den größten Leistungen in Mühlens Namen zählt 1899 die Finanzieru­ng des bischöflic­hen Knabenkonv­ikts, auch„Collegium Thomaeum“genannt, im Hause Ecke Moorenring/ Thomasstra­ße. Es stand leer, denn sein Besitzer, der Notar und Justizrat Heinrich Josef Schüller, war 1895 nach Köln gezogen. Im Konvikt lebten nun, beaufsicht­igt von einem katholisch­en Geistliche­n, einem Präses, bis zum Auszug des Gymnasiums aus der Burg 1925 zwischen 60 und 70 Schüler, die aus dem Kempener Umland kamen. Jeden Morgen zogen sie, ein geistliche­s Lied auf den Lippen, zum Unterricht in das einstige kurkölnisc­he Kastell. Nach der Schließung des Internats nahm das Gebäude im September 1932 das Thomas-Lyzeum auf, 1938 von den Nationalso­zialisten in „Städtische Oberschule für Mädchen“umbenannt – Vorläufer des heutigen Luise-von-Duesberg-Gymnasiums. Nach dem Bau des Mädchengym­nasiums an der Berliner Allee wurde das Grundstück 1963 an die Bundespost verkauft, so dass die heutige Post, 1975/76 errichtet, auf ehemaligem Stiftungsb­oden steht. Die Mühlen’sche Stiftung besteht heute noch, spielt aber keine große Rolle mehr. Vor allem, weil ihr Geldvermög­en großenteil­s in zwei Inflatione­n verloren ging.

Bei Regen bilden sich

zu beiden Seiten der neu angelegten Schmutzwas­serrinnen

stinkende Jauchepfüt­zen

Um Schulden zu vermeiden, scheuen die Kempener Handwerksm­eister die Aufnahme von Krediten, ihr Betrieb kann nicht wachsen

 ?? FOTO: KREISARCHI­V ?? Ab 1773 wurde die baufällige Stadtmauer abgerissen. An der Stelle des inneren Stadtgrabe­ns wurden Gärten angelegt und Gartenhäus­er gebaut. Zwei von ihnen stehen heute noch wie das am Möhlenwall, hier in einer Aufnahme von 1966.
FOTO: KREISARCHI­V Ab 1773 wurde die baufällige Stadtmauer abgerissen. An der Stelle des inneren Stadtgrabe­ns wurden Gärten angelegt und Gartenhäus­er gebaut. Zwei von ihnen stehen heute noch wie das am Möhlenwall, hier in einer Aufnahme von 1966.
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FOTOARCHIV: WERNER BECKERS Aus der Mühlen’schen Stiftung von 1778 wurde 1899 das Knabenkonv­ikt gegenüber der Burg finanziert.

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