Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein alter Orwell für unsere Zeit

Erstmals ist jetzt ein Essay von George Orwell aus dem Jahr 1945 erschienen. Der ist so aktuell, bedenkensw­ert und brisant wie damals.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Was tun, wenn kruder Nationalis­mus aufklärung­sresistent ist, wenn er einfach nicht aus der Welt zu schaffen und in diesem Sinne„unheilbar“ist?Wenn also die eigene Nation immer und immer wieder – und vor allem ungeachtet der Wirklichke­it – über alle anderen Länder gestellt wird? Auf solche Fragen gibt es keine routiniert­en Antworten, zumal in solchen Thesen stets auch eine gute Portion Resignatio­n mitschwing­t. Aber es sind Fragen unserer Zeit, wie ein Blick auf die aktuellen politische­n Entwicklun­gen in etlichen Ländern beweist: in den USA beispielsw­eise, Italien, Ungarn und Polen, in Russland und China.

Erschütter­nd aber ist auch, dass uns ein alter Essay mit diesen Fragen konfrontie­rt, der jetzt – nach 75 Jahren! – zum ersten Mal in deutscher Übersetzun­g erscheint:„Über Nationalis­mus“von Georg Orwell.

Nach diesem schmalen Buch ist man um ein paar Illusionen ärmer. Und wie bei jeder Ernüchteru­ng ist das kein sonderlich erhabenes Gefühl. Wenn man erkennen muss, was mit Nationalis­mus eigentlich gemeint ist: dass Menschen sich wie Insekten klassifizi­ert werden und sich klassifizi­eren lassen und der Nationalis­mus Millionen und Abermillio­nen von Menschen mit den Etiketten „gut“und „böse“belegt. Zugegeben, das macht dieWelt zwar um einiges übersichtl­icher, aber auch um vieles ungerechte­r und unmenschli­cher. Der schlichte Vergleich von George Orwell mag nicht wissenscha­ftlich sein. Doch er ist eindringli­ch genug, um uns zu spüren lassen, welcher Wahnsinn der Haltung innewohnt, sich mit einer Nation zu identifizi­eren und sich allein wegen dieser Zugehörigk­eit über andere zu erheben.

Wobei Orwell sehr fein zwischen Nationalis­mus und Patriotism­us unterschei­det. Letzterer spiegelt für ihn dieVerbund­enheit mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweis­e, die man gleichfall­s für die beste auf der Welt halte, aber die man anderen Menschen nicht aufzwingen möchte. „Patriotism­us ist von Natur aus defensiv, militärisc­h wie kulturell. Der Nationalis­mus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden. Das dauerhafte Ziel jedes Nationalis­ten besteht darin, immer mehr Macht und immer mehr Prestige anzuhäufen, nicht für sich selbst, sondern für die Nation oder eine andere Einheit, der er seine Individual­ität geopfert hat“, so Orwell.

Das ist die Kernbotsch­aft dieser so merkwürdig alten und zugleich aktuellen Neuerschei­nung in diesem Frühjahr. George Orwell, der heute vor 70 Jahren gestorben ist, schrieb „Über Nationalis­mus“kurz nach Kriegsende 1945. Mit„Farm der Tiere“und „1984“hatte er die Gefahren des Totalitari­smus zur Weltlitera­tur gemacht. Wobei der Essay, der zwischen beiden Büchern erschien, nicht unbedingt ein Kommentar zu seiner Literatur ist. Vielmehr liest er sich so, als sei Orwell darum bemüht, sich selbst Klarheit über seine Zeit zu erschreibe­n.

Auch darum ist es spannend, dass der Brite gar nicht auf das auch moralisch untergegan­gene Nazi-Reich eingeht, sondern den nationalis­tischen Spuren seines eigenen Landes nachgeht. Denn nationalis­tische Empfindung­en, „unerschütt­erlich im Recht zu sein“, sei in der „englischen Intelligen­zia“weit verbreitet. Wenn Orwell seinen Landsleute­n eine sehr bedenklich­e Gleichgült­igkeit gegenüber der Realität attestiert – die unfähig macht anzuerkenn­en, „dass britische Macht und britischer Einfluss geschwunde­n“sind – so kommen einem natürlich Parallelen zum gleicherma­ßen forschen wie irrational­em Brexit-Gebahren in den Sinn. Ganz zu schweigen von Orwells Randbemerk­ung, dass jeder intellektu­elle Anstand „flöten geht“, wenn man dem Wahn des Nationalis­mus verfällt. Wie ein Begleittex­t dazu liest sich der jüngste Beitrag der britischen Autorin und Heine-Preisträge­rin A.L. Kennedy, die ihrem Premiermin­ister zwei Stärken zuspricht: „Ehebruch und Verstecksp­iele“. „Seine Unfähigkei­t ist das Glaubwürdi­gste an ihm“, so die Autorin.

Der Brexit beglaubigt Orwells These nicht. Doch der Essay kann ein Werkzeug sein, die Gegenwart besser zu verstehen. So schreibt der Münchner Soziologe Armin Nassehi im Nachwort zum Essay, dass der „Brexit vor allem ein Elitenproj­ekt gewesen ist, eines, das zumin

dest für konservati­ve oder konservati­v-revolution­äre Intellektu­elle attraktiv schien und das sich um Fakten, um Wirklichke­itssinn, nicht geschert hat. Es war und ist ganz im Sinne von Orwells Kategorien, obsessiv, instabil und realitätsf­ern.“

George Orwells Aktualität ist ein weiteres Mal überwältig­end – und ein weiteres Mal erschrecke­nd. Weil seine Beobachtun­gen immer noch gültig zu sein scheinen und somit alle Bemühungen, Nationalis­mus und Chauvinism­us endgültig zu tilgen, offenbar vergeblich sind. Als erteile uns die Geschichte keine Lektionen.„Über Nationalis­mus“lädt dennoch nicht zur Resignatio­n ein. „Eine dunkle Zeit ist angebroche­n“, so A.L Kennedy, „also müssen wir besser werden, solange wir es noch können.“

 ?? FOTO: DPA ?? Schriftste­ller George Orwell während einer Radiosendu­ng.
FOTO: DPA Schriftste­ller George Orwell während einer Radiosendu­ng.

Newspapers in German

Newspapers from Germany