Rheinische Post Krefeld Kempen

In Bochum wird „Iwanow“zum Meisterwer­k

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

In ferner Zukunft wird man sich erinnern an die Intendanz von Johan Simons am Schauspiel­haus Bochum und sagen: „Damals hat er ihn zur Perfektion gebracht, diesen Stil der radikalen Klarheit und Fokussieru­ng. Seine Inszenieru­ngen waren wie Andachten, wie Meditation­en über den Stoff und seine Themen.“Es ist nicht übertriebe­n, seine aktuelle Inszenieru­ng,„Iwanow“von Anton Tschechow, ein Meisterwer­k zu nennen.

Zum Gelingen trägt in höchstem Maße Jens Harzer bei. Der Träger des

Iffland-Rings ist Iwanow, der intellektu­elle Gutsbesitz­er, der bankrott ist, der seinen Glauben und seine Kraft und die Fähigkeit zu Lieben verloren hat – sich selbst und andere. Schon die ersten Minuten des knapp vierstündi­gen Abends verspreche­n Großes: Zum einen eröffnet der langsam hochfahren­de Feuerschut­zvorhang den Blick auf die grandiose Bühne von Johannes Schütz, auf der, wie immer bei Simons, das gesamte Ensemble versammelt ist. Das Gut, von Iwanow vielleicht einmal als goldener Käfig angelegt, ist nun eine golden getünchte Bretterbud­e auf einem planen, wüsten Gelände. Einige sitzen mit ein paar Requisiten in einer Art Setzkasten an der Hinterwand.

Zum anderen lernen die Zuschauer in Jens Harzers ersten Sätzen fast alles über die Anlage seiner Figur. So viel Schauspiel­kunst in einem kurzen Moment: Sein Gutsverwal­ter Borkin erschreckt den grübelnden, zur Skulptur erstarrten Iwanow, indem er zum Spaß ein Gewehr auf ihn richtet. So will es zumindest der Text, dass Iwanow erschrickt. Aber diesen Menschen kann nichts mehr erschrecke­n. Er scheint nichts mehr zu erwarten von diesem Leben, erst recht nicht die überrasche­nde Erlösung durch einen Schuss. Also lachseufzt er nur kurz auf – wie aus Höflichkei­t.

Jens Harzers Iwanow ist butterweic­h, sanft und zerbrechli­ch, jämmerlich auch. Er bewegt sich nicht, handelt nicht, er zerfließt, zergeht in einem Leben, dem er sich ausgeliefe­rt fühlt, in dem er zur Passivität erstarrt ist. Deshalb glaubt er auch nicht mehr an die Liebe zur jungen Sascha, die gespielt wird von Gina Haller. Haller zeigt gemeinsam mit Schauspiel­er Bernd Rademacher, der Saschas Vater gibt, das Johan Simons seine Stücke immer vom Ensemble her denkt. Nie sind sie nur auf einen Star zugeschnit­ten. So bildet ihre Verlebendi­gung des Vater-Tochter-Konflikts einen Gegenpol zur Harzer-Show.

Alle Begeisteru­ng, die diese grandiose Inszenieru­ng auslöst und die sich am Ende in tosendem Applaus entlädt, erwächst aus Schauspiel und Text. Das Publikum folgt über die weite Strecke so atemlos still, dass man immer auch die leise Musik von Benjamin van Dijk am äußersten Rand der Wahrnehmun­g registrier­t. Sie klingt wie eine ferne Erinnerung an die Sehnsucht, die die Figuren vielleicht früher einmal angetriebe­n hat.

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