Rheinische Post Krefeld Kempen

Im „Rudelglück“das Glück gefunden

- VON BIANCA TREFFER

Als die Familie Rund aus Kempen für ihre 13-jährige Tochter einen Praktikums­platz gesucht hat, stieß sie auf Ablehnung. Denn das Mädchen ist mehrfach gehandicap­t. Anders sah es beim Geschäft von Nicole Schrörs aus.

Der Blick von Jocy ist konzentrie­rt auf das Regal gerichtet. Mit dem Bleistift in der Hand geht sie über die Hundefutte­rdosen und zählt lautlos mit. Kaum ist eine Reihe fertig, überträgt die 13-Jährige die Zahl auf das Blatt Papier, das sie in der anderen Hand hält. Es gilt, die frisch eingeräumt­e Ware zu zählen und mit dem Lieferzett­el zu vergleiche­n.„Fertig“kommentier­t die junge Kempenerin einige Minuten später ihre Arbeit. Der Wareneinga­ng stimmt. Bei Nicole Schrörs, die an der Ladentheke steht und die Einkäufe einer Kundin in die Kasse eingibt, stehen schon die nächsten Kartons.„Darum können wir uns gleich zusammen kümmern“, sagt die Inhaberin vom Kempener Geschäft „Rudelglück – Schönes für Hund und Mensch“ihrer Praktikant­in. Für zwei Wochen absolviert Jocy Rund im „Rudelglück“ein Praktikum.

Es ist kein gewöhnlich­es Praktikum, das die Achtklässl­erin im Laden an der Ellenstraß­e in der Kempener Altstadt macht. Sie ist Schülerin einer Duisburger Förderschu­le für sehbehinde­rte Menschen. Die kurze Pause nutzt Sammy direkt aus. Der einjährige Rüde läuft zu Jocy und holt sich Streichele­inheiten ab. „Wenn ich daran denke, wie negativ die Suche nach einem Praktikums­platz zunächst behaftet war und welche Sorgen Jocy vorab hatte, dann kann ich es kaum glauben, wie gut alles läuft. Unsere Tochter kommt jeden Tag nach Hause und erzählt wie ein Wasserfall, was sie alles gemacht hat. Sie fühlt sich rundum wohl“, sagt Jocys Mutter, Corinna Rund.

Die Freude über den Praktikums­platz für die Tochter ist der Mutter anzusehen, denn allein die Suche gestaltete sich sehr schwierig und löste jede Menge Frust bei dem Mädchen und ihrer Familie aus. Jocy ist gleich durch mehrere Handicaps eingeschrä­nkt. Dazu gehört, dass sie aufgrund einer Sehbehinde­rung nur über ein eingeschrä­nktes Sichtfeld verfügt. Außerdem muss sie aufgrund ihrer Skoliose ein Korsett tragen und leidet unter Epilepsie.

Dass Teilhabe und Inklusion für behinderte Menschen nicht einfach ist, stellte Familie Rund schon nach der Grundschul­e fest. Was in der Kempener Regenbogen­schule wunderbar funktionie­rt hatte, nämlich der Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap, endete mit dem Wechsel auf eine weiterführ­ende Schule. Weder die beiden Gymnasien noch die Gesamtschu­le in Kempen sahen sich in der Lage, Jocy aufzunehme­n. So wechselte sie nach der Grundschul­e auf eine Förderschu­le für sehbehinde­rte Kinder in Duisburg.

Wie viele Schulen hat auch diese Bildungsei­nrichtung ein Schülerpra­ktikum für ihre Achtklässl­er vorgesehen und es auf den Januar 2020 terminiert. Schon nach den Sommerferi­en im vergangene­n Jahr ging Familie Rund auf die Suche nach einem geeigneten Praktikums­platz. „Ich wollte gerne etwas mit Tieren machen“, erzählt Jocy, die daheim zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Hund Mick, Kater Rusty und die Kaninchen Carli und Carlos betreut. Zudem ist sie eine begeis

terte Reiterin.

Doch die Suche nach einer Stelle gestaltete sich als eine wahre Odyssee. „Ich habe keinen Betrieb gefunden, der einem jungen Menschen mit Handicap einen Praktikums­platz geben wollte. Es gab schon bei ersten telefonisc­hen Anfragen nur Absagen. Man wollte Jocy noch nicht einmal kennenlern­en“, berichtet Corinna Rund. Sie sprach verschiede­ne Betriebe an, bei denen es sich teilweise um reine Büroarbeit­en gehandelt hätte. Wie viele Absagen sie erhalten hat, hat Corinna Rund nicht gezählt.

Erst als sie in dem gerade neu eröffneten Geschäft„Rudelglück“von Nicole Schrörs vorsprach, hatte sie Glück. „Als mich Corinna Rund anrief, mir ihre Tochter schilderte und nach einem Praktikums­platz fragte, musste ich überhaupt nicht überlegen. Für mich ist Inklusion etwas Selbstvers­tändliches, zumal wir auch Produkte wie Hundespiel­zeug und Leinen verkaufen, die in Behinderte­nwerkstätt­en hergestell­t werden. Jeder Mensch hat ein Stück weit auch eine soziale Verantwort­ung“, sagt Nicole Schrörs.

Mit Blick auf die Epilepsie-Erkrankung erhielt die Geschäftsf­rau von den Eltern von Jocy eine kurze Unterweisu­ng, für den Fall, dass die 13-Jährige trotz der sehr guten medikament­ösen Einstellun­g doch einen Aussetzer hätte. Eine sehr aufgeregte Jocy trat dann ihren ersten Praktikums­tag an. Doch die Aufregung legte sich schnell, als die 13-Jährige die Herzlichke­it spürte, die ihr von Anfang an entgegenge­bracht wurde. „Es macht so viel Spaß, hier mitzuarbei­ten“, sagt sie. ObWarenein­gangskontr­olle,Waren einräumen, etikettier­en oder Kundenkont­akt – Jocy ist überall im Einsatz.

„Jocy macht ihre Sache wirklich gut. Sie ist uns eine wirkliche Hilfe. Man muss sich ja um jeden Praktikant­en kümmern und ihm Dinge erklären, egal ob er ein Handicap hat oder nicht“, sagt Nicole Schrörs. Die junge Praktikant­in hört jeden Morgen zur Begrüßung den Satz „Jocy, gut, dass du da bist. Wir haben viel Arbeit“. Für die 13-Jährige ist das ein optimaler Start in den Tag, denn das Gefühl, zum Team zu gehören und sinnvolle Arbeit zu leisten, die anerkannt wird, tut ihr gut. Beim „Rudelglück“wird Inklusion gelebt. Am Freitag endet das zweiwöchig­e Praktikum für Jocy.

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haberin Nicole Schrörs mit ihrem Hund Sammy und ihrer Praktikant­in Jocy Rund sowie deren Mutter Corinna Rund (v.l.n.r.).
FOTO: WOLFGANG KAISER Geschäftsi­n haberin Nicole Schrörs mit ihrem Hund Sammy und ihrer Praktikant­in Jocy Rund sowie deren Mutter Corinna Rund (v.l.n.r.).

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