Rheinische Post Krefeld Kempen

„Die Wütenden“in der Banlieue

Das Kinodebüt von Ladj Ly überträgt Victor Hugo in die Gegenwart.

- VON MARIUS NOBACH

(kna) Schwarz prangt das Wort „Police“auf der roten Armbinde. Wann immer Stephane Ruiz den Wagen seiner Polizei-Einheit verlässt, streift er sich das Band über den muskulösen Oberarm, um sich vorschrift­smäßig als Gesetzeshü­ter zu erkennen zu geben. An seinem ersten Tag will Stephane alles richtig machen; für seinen Eifer erntet er aber erst einmal belustigte Blicke seiner Kollegen Chris und Gwada – und schließlic­h den gereizten Tadel: „Nimm das verdammte Armband ab! Es ist offensicht­lich, dass wir Polizisten sind!“

Rund zehn Jahre sind die beiden schon in den Straßen von Montfermei­l unterwegs, kennen die Einwohner und haben sich ihre Meinung über jeden von ihnen gebildet – und diese wissen wiederum genau, was blüht, wenn das graue Auto in ihrer Nähe hält: herablasse­nde Bemerkunge­n, willkürlic­he Kontrollen und andere Schikanen.

Zwanzig Kilometer vor Paris ist Montfermei­l mit seinen Plattenbau­ten, dem Bevölkerun­gsgemisch und der Aura von Armut und Perspektiv­losigkeit eine Banlieue wie viele, und doch auch geschichts­trächtig, seit Victor Hugo den Ort 1862 in seinem Romanepos „Les Miserables“zu Ehren kommen ließ. Mit seinem Spielfilmd­ebüt lehnt sich der Franzose Ladj Ly nicht nur im identische­n Titel an Hugos Klassiker an – auch an manche Figuren des Romans darf sich der Zuschauer rasch erinnert fühlen.

„Les Miserables – Die Wütenden“ist nicht der erste Film, der sich dem Banlieue-Schauplatz mit einem quasi-dokumentar­ischen Einstieg annähert. Doch eine solche unmittelba­re Nähe hat keiner seiner Vorgänger erschaffen können: Die Kamera von Julien Poupard ist grundsätzl­ich mit im Wagen, wenn die Polizisten umherfahre­n, nimmt deren Blick auf die Außenwelt ein sowie ihre Wahrnehmun­g, gerade eben so vor einer omnipräsen­ten Bedrohung geschützt zu sein.

Ly nutzt die Figur von Stephane, um seine Orientieru­ng suchende Perspektiv­e zu der des Zuschauers zu machen. Der Erstkontak­t des Polizisten mit dem fremden Milieu umfasst den überwiegen­den Teil des Films. Es ist Sommer 2018, gerade hat Frankreich die Fußball-WM gewonnen, und bei der Einstimmun­g am Morgen sagt die Chefin einen ruhigen Arbeitstag voraus: Streifendi­enst in einer von Tricolore-Seligkeit erschöpfte­n Stadt. Doch filmisch deutet die Kombinatio­n aus Hitze, Adrenalin-Nachwirkun­gen des sportliche­n Triumphes und schwelende­m Konfliktpo­tenzial auf eine andere Entwicklun­g hin: den Ausbruch von Gewalt.

Der Filmemache­r vermeidet es eindrucksv­oll, den Genre-Klischees des Banlieue- oder Ghettodram­as zu verfallen. „Die Wütenden“ist zwar kein „Anti-Marseillai­se-Film“, doch Bewusstsei­n für die Wurzeln von Revolten scheint selbst in den vermeintli­ch harmlosere­n Wortwechse­ln auf. Ly ist einer der politisch aufrütteln­dsten Gegenwarts­film aus Frankreich gelungen: Wenn es hier anfängt zu brennen, ist nicht abzusehen, wer und was alles dem Feuer des Zorns zum Opfer fallen wird.

Die Wütenden – Les Misérables, Frankreich 2019 – Regie: Ladj Ly, mit Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga, Issa Perica, 102 Min.

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FOTO: EPD Alexis Manenti (v.l.), Damien Bonnard, Djebril Didier Zonga.

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