Rheinische Post Krefeld Kempen
„Mir gehen die Maßnahmen bei Corona zu weit“
Der derzeit bekannteste deutsche Philosoph über Pandemie, Klimaschutz und trügerische Erwartungen an künstliche Intelligenz.
In Corona-Zeiten ist soziale Distanz und Kontaktlosigkeit gewünscht. Aber Menschen verkümmern, wenn sie sich nicht berühren dürfen. Macht Ihnen das Sorge?
PRECHT Das halte ich für übertrieben. Für ältere Menschen, die jetzt im Pflegeheim wochenlang auf Besuch warten, mag dies zutreffen. Und das ist auch ein echtes Problem. Aber die Gesellschaft verkümmert nicht. Schließlich gibt es trotz Kontaktverbot jede Menge sozialer Verbindungen. Wir haben ja eine sehr gemäßigte Form der sozialen Distanzierung gewählt.
Die Mehrzahl der Virologen plädiert für eine Verlängerung der Maßnahmen. Gleichzeitig gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Bevölkerung zu 60 bis 70 Prozent mit dem Virus infiziert wird. Ist das nicht ein Widerspruch?
PRECHT Das ist sogar ein eklatanter Widerspruch. Aber wir dürfen den Virologen daraus keinen Strick drehen. Die Wissenschaft weiß einfach über dieses neuartige Virus zu wenig. Ein bekannter Virologe hat mir versichert, dass in Deutschland nur zwei Experten das Coronavirus wirklich kennen, und auch die lernen ständig dazu. Mit dieser Ungewissheit werden wir leben müssen.
Der Gesundheitsschutz hat einen überwältigenden Stellenwert durch die Corona-Krise erhalten. Tut der Staat des Guten zu viel?
PRECHT Ich habe mich zunächst über die klare Priorisierung gefreut. Es handelt sich immerhin um einen Akt der Solidarität gegenüber den älteren und schwächeren Menschen der Gesellschaft. Allerdings wünschte ich mir den gleichen Ernst und ein vergleichbares Problembewusstsein auch beim Klimaschutz. Zugleich muss ich gestehen, dass mir die Maßnahmen bei Corona im gegenwärtigen Zeitpunkt zu weit gehen. Wir können nicht warten, bis es keine einzige Infektion mehr gibt, bevor wir uns wieder die Hände schütteln.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat mit seiner jüngsten Relativierung des Gesundheitsschutzes viel Unmut auf sich gezogen. Teilen Sie seine Meinung?
PRECHT Er hat im Grunde recht. Denken Sie etwa an die geschätzten 25.000 Toten in der Grippewelle 2017/2018 in Deutschland, die das Robert Koch-Institut ermittelt hat. Damals sind mehr Menschen umgekommen als durch das Coronavirus heute. Und trotzdem gab es keine speziellen Vorsichtsmaßnahmen wie Mundschutzpflicht oder Abstandsgebot.
Gegen Grippe gibt es aber Impfungen, gegen die Covid-19-Krankheit hingegen nicht.
PRECHT Richtig. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wir haben wegen des Coronavirus deshalb so einschneidende Maßnahmen ergriffen, weil wir das Gesundheitssystem nicht überlasten wollten. Und das war richtig. Die meisten Grippe-Patienten sind zu Hause gestorben und haben die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems nicht infrage gestellt. Das zeigt aber gleichwohl, dass der Primat des Gesundheitsschutzes bei weitem nicht so gilt, wie es gegenwärtig behauptet wird.
Sehen Sie da nicht eine Ungleichbehandlung der Patienten?
PRECHT Nein. Der Mensch ist ständig Risiken ausgesetzt. Wir haben 3000 Tote im Straßenverkehr, und doch denkt niemand daran, das Autofahren zu verbieten. Wenn Sie in ein Fußballstadion gehen, nehmen Sie auch ein bestimmtes Risiko in Kauf, wenn Sie zum Beispiel in den falschen Fanblock geraten. Die Gesellschaft muss damit leben, dass ein gewisses Risiko für jeden tragbar sein muss. Und das gilt auch für die Gesundheit. Im Fall von Corona haben wir befürchtet, dass es zu einem Chaos und einer großen Katastrophe kommen wird, wenn wir die Regeln nicht einhalten. Wir können aber nicht zukünftig bei allen Risiken die Freiheitsrechte beschränken und drastische Maßnahmen einführen. Das muss die radikale Ausnahme bleiben.
Die Wirtschaft verlangt ebenfalls eine Öffnung. Das tun Kritiker ab mit dem Argument, es ginge um Geld statt um Leben.
PRECHT Das ist zu einfach gedacht. Ein Einbruch der Wirtschaft vernichtet Existenzen, die Menschen haben Sorgen um ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen.Wohlstand beschert bis zu einem gewissen Grad auch Glück. Das muss man sorgfältig gegen den Gesundheitsschutz abwägen, auch wenn der zunächst Vorfahrt hat.
Was schlagen Sie vor?
PRECHT Wir müssen zum einen schneller öffnen, um die Schäden für die Wirtschaft und die Einkommen vieler Arbeitnehmer so gering wie möglich zu halten. In Zukunft würden wir die Läden ohnehin nicht sofort wieder schließen, sondern uns eher um den Schutz derer bemühen, die besonders gefährdet sind.
Stimmt der Eindruck, dass die Politik – etwa in Heinsberg oder Tirol – zunächst nicht reagiert hat, dann sehr massiv und jetzt den Ausstieg
chaotisch bewerkstelligt?
PRECHT Der Eindruck eines chaotischen Ausstiegs drängt sich auf. Allerdings haben es die Politiker auch nicht einfach. Die scharfen Maßnahmen haben dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und der Kanzlerin hohe Zustimmungswerte eingetragen. Von denen verabschieden sie sich nur ungern. Und vor allem wollen sie nicht das Risiko eingehen, dass sie verantwortlich gemacht werden, wenn bei den Lockerungen ein Rückschlag eintritt.
Die Schweden haben auf Kontaktverbot und Stilllegungen verzichtet. Ist das der bessere Weg?
PRECHT Ich schaue jeden Tag auf das schwedische Modell. Und wir werden in drei bis vier Wochen alle viel intensiver darüber sprechen. Jetzt ist es noch zu früh, aber interessant ist der Fall Schweden schon.
Es gibt Kritik am schwedischen Weg, weil die Zahl der Toten im Verhältnis höher ist als bei uns.
PRECHT Das stimmt, aber die Zahl der Neuinfektionen geht auch in Schweden zurück, obwohl es weder Kontaktverbot noch Stilllegungen gibt! Wie ist das möglich? Das widerspricht allem, was die Virologen bei uns erklären. Warum breitet sich dasVirus in Schweden nicht exponentiell aus? Möglicherweise schwächt sich das Virus ja wie der Influenza-Erreger ab, aber bitte, ich bin kein Virologe oder Epidemiologe.
Es ist viel von der neuen Normalität die Rede, wenn die Pandemie noch länger anhält. Wie muss die Ihrer Meinung nach aussehen?
PRECHT Die Politik hat die Krise bislang ganz ordentlich gemanagt. Doch der viel schwierigere Teil kommt jetzt. Jetzt müssen wir die richtigen Lehren ziehen. Wird etwa die Lufthansa die innerdeutschen Strecken aufgeben, um das Klima zu schonen? Das fände ich schon eine ernste Überlegung wert, vor allem, wenn der Staat dort als Retter einsteigt. Was wird aus unserem Einzelhandel? Werden wir die Gewinner der Krise, vor allem Amazon mit seinen massiven Profiten, endlich gebührend zur Kasse bitten? Zurzeit zahlen die Internet-Giganten weniger Steuern als ihre Mitbewerber, ich möchte, dass sie zukünftig mehr Steuern zahlen als die anderen.
Da kommen Sie mit der Gleichheit der Besteuerung in Konflikt.
PRECHT Warum? Wir haben unterschiedliche Sätze bei der Mehrwertsteuer. Mieten werden damit gar nicht besteuert, Lebensmittel und Bücher mit sieben Prozent, der Rest mit 19 Prozent. Wo ist da die Gleichheit? Ich fordere, dass die US-Giganten mit einem höheren Mehrwertsteuersatz bedacht werden – einer Online-Abgabe, die ab einer bestimmten Umsatzgröße fällig wird.
Manche dieser Giganten sind inzwischen mächtiger als Staaten. Ist so etwas durchsetzbar?
PRECHT Der Staat hat bei Corona gezeigt, dass er sehr viel durchsetzen kann, wenn er will. In der neuen Normalität brauchen wir den stationären Handel, sonst veröden die Innenstädte. Leider gab es diesen Willen, den Einzelhandel zu fördern, bislang nicht. Das rächt sich derzeit bitter und sollte sich dringend ändern.
Muss der Staat nach der Corona-Krise eine neue Aufgabe übernehmen?
PRECHT Der Staat muss ordnungspolitisch auf dem Markt stärker aktiv sein als bisher. Das war meine Meinung schon vor der Corona-Krise. Die hat mich aber darin bestärkt. Wenn Märkte sich selbst überlassen werden, tendieren sie zur Abschaffung desWettbewerbs. Das zeigt das Beispiel Amazon überdeutlich. Der US-Riese ist ja kein Marktteilnehmer, sondern stellt selbst den globalisierten Online-Handel dar und legt als Quasi-Monopolist die Bedingungen fest. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Was hat das mit der Corona-Krise zu tun?
PRECHT Die Stilllegungen haben diesen Prozess beschleunigt. Wir müssen ihn aber umkehren. Ich bin nicht gegen Internet-Handel. Aber ich bin dagegen, dass ein Unternehmen wie Amazon zum Winnertakes-it-all wird. Die Städte müssten sich deshalb zusammentun und diese Beschleunigung alsWarnzeichen begreifen. Leider tun sie das Gegenteil und hofieren zum Teil auch noch die großen Ketten, die ihre Innenstädte veröden lassen.
Sie werben für ein soziales und ökologisches Umdenken. Aber wird die Politik jetzt nicht die Priorität haben, dass die Wirtschaft möglichst schnell wieder – ohne allzu viel Einschränkungen – auf die Beine kommt?
PRECHT Das zu tun, wäre brandgefährlich. Wann soll denn der überlebensnotwendige Umbau kommen, wenn nicht jetzt? Nach der Krise ist das Fenster für Alternativen wieder zu. Die Corona-Krise hat uns allen gezeigt, wie verletzlich wir als biologische Lebewesen sind. Es müsste jedem in diesen Zeiten klargeworden sein, wie sehr wir von biologischen oder physikalischen Kräften, also von unserer Umwelt abhängig sind.Wenn wir weiter die Erderwärmung befeuern, dann sind die jetzigen Maßnahmen in der Corona-Krise niedlich gegen das, was die Politik uns in wenigen Jahrzehnten angesichts der Klimakatastrophe vorschreiben und zumuten wird.
Ist das Corona-Chaos noch steigerbar?
PRECHT Leider ja. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn sich Hunderte Millionen Flüchtlinge wegen Hitze- und Dürreperioden in ihren Ländern auf den Weg machen, wenn Millionenstädte von Überflutung bedroht sind, wenn Tropenkrankheiten nach Deutschland kommen und die globale Wirtschaft völlig einbricht.
Viele sagen, dass die Globalisierung erst die rasche Verbreitung des Virus ermöglicht hat.
PRECHT Die Globalisierung hat ihre Verdienste, aber auch ihre Probleme. Wir werden nicht umhinkommen, einiges nach der Pandemie auf den Prüfstand zu stellen. Aber die Globalisierung werden wir schon im eigenen wirtschaftlichen Interesse nicht zurückdrehen wollen.
Können wir mit unseren technischen Möglichkeiten, dem Einsatz von künstlicher Intelligenz das Coronavirus besiegen?
PRECHT Ich wüsste nicht wie. Tracing-Apps können vielleicht ganz zu Anfang oder am Ende einer Epidemie helfen, aber auch das ist nicht sicher. Wir können uns in keinem Fall darauf verlassen, dass künstliche Intelligenz uns grundsätzlich vor Krankheit und Tod bewahrt. Ich veröffentliche nächsten Monat ein Buch, das sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Darin beschreibe ich, dass Menschen keine Maschinen sind mit defizitären Speichern und ungenügender Rechenleistung, sondern zutiefst biologische und sozialeWesen. Die Heuschrecken sind uns näher verwandt als das Smartphone. Die Vorstellung, dass Menschen so etwas wie Vorformen superintelligenter Maschinen sind, die sich von uns erfunden, immer weiter entwickeln und den Menschen ersetzen, ist alberne Science Fiction aus dem Silicon Valley. Gerade die Corona-Krise lässt uns spüren, dass wir in die Natur eingebunden sind. Und wenn wir uns dessen bewusst sind, finden wir auch Lösungen – in der Corona-Krise und in der noch viel größeren Herausforderung durch den Klimawandel.