Rheinische Post Krefeld Kempen
Familienleben im Ausnahmezustand
Das Leben kehrt ganz allmählich zurück in geordnetere Bahnen. Dennoch bleibt ein Gefühl der Beklommenheit: Wie wirkt sich die Furcht vor dem Virus auf den Umgang miteinander aus? Und wie erkläre ich meinen Kindern, dass da etwas ist, das uns gefährlich werden könnte?
Erstmal das Lustige: Corona hat das Miteinander in Familien verändert, und das zeigt sich auch in der Ansprache. Fragen wie „Kannst Du gerade, oder bist Du in einer Videokonferenz?“sind für viele neu. Ebenso die entrüstet gesprochenen Sätze von Kindern, die man bittet, den Tisch zu decken, obwohl sie noch Schularbeiten erledigen: „Entschuldigung, aber ich bin auch im Homeoffice!“Manche Familien haben ganz neue Rituale eingeführt, abends noch alle zusammen eine Folge „Die Simpsons“gucken etwa oder auszumachen, wer wann welche Blumen gießen soll. Irgendwie rührend ist auch, dass in manchen Wohnungen neben der Tür nun nicht mehr bloß Haken für Jacken in der Wand stecken. Sondern auch für Schutzmasken. Womit wir bei den weniger schönen Folgen wären.
Corona – oder besser gesagt: die Furcht vor Corona – droht sich nämlich im Denken festzusetzen. Und es besteht die Gefahr, dass einen das unfrei und beklommen macht. Manche erleben es ja bei sich selbst, dass ihnen Sachen in den Kopf geschossen kommen, über die sie sich ärgern: Warum denke ich so was? Warum tue ich das? Dass sie zum Beispiel die Luft anhalten, wenn sie auf der Straße an einem Passanten vorbeigehen. Oder dass sie zu Hause überlegen, ob man nicht auch mal den Hausschlüssel desinfizieren sollte. Oder dass sie Kindern sagen, dass sie jetzt bitte nicht so nah an die Vorderleute herangehen mögen – wegen des Virus.
Die Bedrohung durch ein neuartiges Virus war für die meisten von uns eine neue Erfahrung, und neue Erfahrungen bedeuten immer Unsicherheit. Nur würde man nach all den Wochen nun natürlich ganz gerne sichergehen, dass man selbst und auch die Kinder den Anderen künftig nicht unterschwellig als Bedrohung empfinden. Oder, im Corona-Sprech: dass der Mitmensch also weiterhin bitte als Bereicherung wahrgenommen werden möge und nicht als potenzieller Superspreader. Was indes umso schwieriger ist, als die Masken im Stadtbild dauernd präsent sind als sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Bedrohung.
Nikolaus Knoepffler kennt sich mit solchen Fragen und Gedankenspielen aus. Er ist Dekan der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften und Leiter des Bereichs Ethik in den Wissenschaften an der Uni Jena. Und er sagt: „Es bringt nichts, Kindern eine heile Welt vorzugaukeln. Das hieße, ihnen das Leben vorzuenthalten.“Aufrichtigkeit im Umgang mit der Bedrohung vermittle Kindern hingegen, dass es im Leben Herausforderungen und Brüche gebe, für die man Lösungen finden muss. Wir lebten nun mal auf unsicherem Boden.
Nur ist gerade diese Unsicherheit das Problem. Man möchte Kindern ja ihre Unerschütterlichkeit nicht nehmen, ihre Zugewandtheit und Unvoreingenommenheit. Sie sollen nicht in Furcht leben. Natürlich soll man Kinder nicht konfrontieren oder schocken, sagt Nikolas Knoepffler denn auch. Aber man könne ihnen ja das Gute an der neuen Situation aufzeigen. Im Falle der Masken könnte das so gehen, empfiehlt er: „Indem man einfach den umgekehrten Fall annimmt. Den Fall nämlich, ich wäre selbst infiziert und will die anderen vor mir und meinen Viren schützen. Dann kommt es gar nicht zu diesem Kopfkino, dass der andere eine Bedrohung darstellt. Ich sehe das dann als Chance auf Rücksichtnahme.“Um den Kindern nicht ihre Spontaneität und Arglosigkeit zu nehmen, könne man ihnen ruhig sagen, dass es unter Kindern normalerweise kein großes Problem ist, dass aber Ältere geschützt werden müssten, weil das Virus für sie gefährlicher sein könnte.
Viele Menschen, die während der Ölkrise 1973 einen der autofreien Sonntage erlebt haben, erinnern sich daran noch gut. Das war etwas Besonderes, weil das gewohnte Leben still stand. Da wo sonst Bewegung herrschte, war nun Ruhe. Es
Nikolaus Knoepffler war ein Eingriff in den Ablauf des Alltäglichen. So gesehen hatten wir jetzt zwei Monate lang autofreien Sonntag. Wird diese Erfahrung nicht lange oder gar ewig präsent sein im Bewusstsein eines Kindes? Und prägt es sie?
Ja, Knoepffler glaubt, dass die aktuelle Situation durchaus auf die Erinnerung von Kindern wirkt und dort bewahrt wird. Das ist allerdings nichts Schlechtes, findet er: „Es ist ein Ausnahmezustand, und der soll auch sichtbar sein. Das kann man aus der Pandemie lernen: dass man schneller mit Masken hätte arbeiten müssen. Nicht so sehr, weil man sich damit vor anderen schützt. Und vielleicht noch nicht mal, weil man damit den anderen vor sich selbst schützt. Sondern, damit das Bewusstsein da ist, dass wir in einer Ausnahmesituation sind. Weil es nun mal eine Ausnahmesituation ist, die darin besteht, dass bestimmte Menschen vom Virus stark bedroht sind. Das ist für Kinder ein wichtiges Zeichen. Sie merken, noch ist nicht alles normal, noch sind wir in einer Sondersituation.“Wichtig ist, dass man dem
Kind nicht das Gefühl gibt, man ergebe sich der Sondersituation. Indem man aufzeigt, dass man handelt, lässt man durchblicken, dass jeder ein bisschen was tun könne. Auch dafür sei das Masketragen etwas Gutes: Es zeigt, dass man Maßnahmen ergreift, dass man andere schützt und so etwas zur Verbesserung der Situation beitragen kann. Wenn auch nur einen Teil, natürlich.
Dass die Einsicht in die Gebrechlichkeit des Alltags und in die Fragilität von Normalität erhellend sein kann, skizziert Knoepffler durch einen Vergleich mit der Bewegung „Fridays For Future“: „Die ist wichtig, und es ist toll, dass es sie gibt. Aber sie hat doch mitunter etwas von einer Allmachtsfantasie. Nämlich die Allmachtsfantasie, wenn wir nur alle richtig handeln, gäbe es keine Klimaänderung. Das vermittelt bisweilen die Vorstellung, wenn man statt mit dem Auto mit dem Fahrrad in die Stadt fährt, retteten wir das Klima. Aber so ist es ja nicht.“Es müsse noch mehr passieren, Dinge, die man nicht durch die Änderung einer Gewohnheit herbeiführen kann, sondern nur durch eine globale Rahmenordnung. Aber natürlich sei das Fahrrad ein Anfang – das zu betonen, ist Knoepffler wichtig. Es bringe nur nichts zu sagen: Wenn ich mich nur gut benehme, kann mir nichts passieren.
Das Leben in den Familien hat sich geändert, sagt Knoepffler. Und natürlich sei der Grund für die Veränderung etwas Schlimmes, ein Virus nämlich, das Krankheiten verursachen kann, Menschenleben kostet und berufliche Existenzen bedroht, das Freiheitsräume einschränkt und Spuren im Stadtbild hinterlässt. Die Krise birgt in Knoepffler Augen aber auch eine Chance: „Man spürt die eigene Begrenztheit, lernt nun von klein auf, dass es Gefahren gibt, und dass man dankbar sein kann, wenn man die Gefahren bewältigt hat.“Er drückt es so aus: „Es ist schrecklich. Aber wenn es schon schrecklich ist, soll man das Beste daraus machen. Man kann Positives mitnehmen. Die großartigen Hilfeleistungen der Menschen untereinander etwa.“
Dass jemand da ist, der nicht die Luft anhält, sondern sich um den anderen kümmert, das ist das Schöne.
„Es ist schrecklich. Aber wenn es schon schrecklich ist, kann man das Beste daraus
machen“
Ethiker