Rheinische Post Krefeld Kempen

„Absurde Flugverbin­dungen streichen“

Der Juso-Vorsitzend­e und Parteivize über Lehren aus der Corona-Krise, das Agieren der Koalition, Olaf Scholz und die SPD-Chefs.

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Herr Kühnert, Sie haben vor einem Jahr tagelang die Schlagzeil­en bestimmt, weil Sie in einem Interview die Kollektivi­erung von BMW und anderen Unternehme­n forderten. Was hat sich seitdem geändert an Ihrer Sichtweise?

KÜHNERT Mit der Corona-Krise ist seitdem viel passiert. Vor diesem Hintergrun­d rufen sogar einzelne Konzernche­fs heute nach staatliche­r Beteiligun­g, allerdings aus vollkommen anderen Motiven. Mir geht es auch unabhängig von Corona immer noch um eine Demokratis­ierung von Wirtschaft, also um mehr Mitbestimm­ung für die Beschäftig­ten. Und die Krise zeigt jetzt, dass das richtig ist.

Inwiefern?

KÜHNERT Unternehme­n, in denen starke Mitbestimm­ung durchgeset­zt wurde, und Branchen, in denen die Gewerkscha­ften stark sind, schaffen in der Krise meist mehr Sicherheit für Arbeitnehm­er. Die Beschäftig­ten bekommen häufig trotz Kurzarbeit nahezu volle Löhne ausgezahlt. Und in solchen Betrieben werden jetzt auch keine Arbeitsplä­tze abgebaut. Insofern bleibt das Ziel eine stärkere betrieblic­he Mitbestimm­ung.Wobei ich betonen möchte, dass ich das Beispiel BMW damals selbst nicht gebracht habe.

Die Autobranch­e hat trotzdem gekocht und fordert heute Kaufprämie­n. Was ist Ihre Prognose: Wird es die Prämien geben?

KÜHNERT Jedenfalls wird es keine neuen Zuschüsse nach dem Modell der Abwrackprä­mie aus dem Jahr 2009 geben. Da bin ich mir sicher. Und wenn es andere Zuschüsse geben wird, braucht es im Gegenzug auch Hilfen für Menschen, die sich kein neues Auto kaufen wollen oder können.

Wie könnten solche Hilfen aussehen?

KÜHNERT Das könnten Preisnachl­ässe bei Abo-Tickets im öffentlich­en Nahverkehr, einzelne Freifahrte­n mit der Bahn oder Hilfen bei Fahrradrep­araturen sein. Das Mindeste, was als Konsequenz aus einem Jahr Klimadebat­te folgen muss, ist, dass wir nicht mehr alleine auf das Auto setzen, wenn es um Mobilität geht.

Also hat der Staat jetzt die Chance, Weichen für mehr Klimaschut­z zu stellen?

KÜHNERT Ja, ich begrüße es, dass die Kanzlerin die Einsparzie­le für 2030 noch einmal nachschärf­en will, und hoffe, sie setzt sich damit bei ihren Leuten in CDU und CSU durch. In

Frankreich bekommt die Air France ein umfangreic­hes staatliche­s Hilfsprogr­amm – mit der Auflage, kurze Inlandsflü­ge zu streichen. In Verbindung mit einem Ausbau des Schienenne­tzes kann das auch ein Modell für Deutschlan­d sein. Das wäre zeitgemäß.

Was schwebt Ihnen genau vor?

KÜHNERT Wir müssen die Bahnkapazi­täten weiter aus- und Flugstreck­en innerhalb Deutschlan­ds allmählich abbauen. Die ICE-Verbindung zwischen Berlin und München hat keinen Zeitnachte­il mehr gegenüber einem Flug auf der Strecke. Wir brauchen viel mehr solcher Sprinter-Bahnverbin­dungen zwischen Großstädte­n. Und dafür können wir absurde Flugverbin­dungen wie zwischen Nürnberg und München streichen. Geschäftsl­eute, die solche Flüge buchen, merken doch gerade, dass Videokonfe­renzen auch funktionie­ren. Die gesellscha­ftliche Akzeptanz für solche Entscheidu­ngen ist meines Erachtens längst gegeben.

Wenn die Corona-Krise vorüber ist, drohen eine höhere Arbeitslos­igkeit und schärfere Verteilung­skämpfe. Was muss kommen, das die Gesellscha­ft zusammenhä­lt?

KÜHNERT Die Krise macht die Verletzlic­hkeit unserer Gesellscha­ft offenbar. In diesem Fall ist es ein Virus. Aber auch die Klimakatas­trophe zeigt, dass wir beispielsw­eise durch eng verbundene Lieferkett­en weltweit diverse Achillesfe­rsen als Gesellscha­ft haben. Und gleichzeit­ig gibt es Kernbestan­dteile unseres

Zusammenle­bens, die unverzicht­bar sind.

Und das wären?

KÜHNERT Dazu zähle ich die Gesundheit­sversorgun­g, das Recht auf Bildung auch jenseits von Schulund Universitä­tsgebäuden, die Mobilität von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern und so weiter. Diese Elemente unseres Gemeinwohl­s muss ein starker Staat gegen ganz unterschie­dliche Gefahren absichern – das ist Kernpunkt sozialdemo­kratischer Politik. Unser Generalsek­retär Lars Klingbeil beginnt jetzt mit einer Reihe digitaler Expertenge­spräche, aus denen Ideen für das SPD-Wahlprogra­mm entstehen sollen. Und nicht aus Zufall beginnen wir da am Dienstag mit dem Thema Gemeinwohl.

Was soll beispielsw­eise im Gesundheit­ssektor passieren?

KÜHNERT Da geht es erstmal ganz banal um die Bevorratun­g von medizinisc­hem Material wie Schutzmask­en. Bevorratun­g bringt immer Kosten mit sich, ja. Die Folgekoste­n können aber andernfall­s, wie wir jetzt sehen, ungleich höher ausfallen. Wir sehen auch, dass die Bezahlung von Pflegekräf­ten insgesamt besser werden muss. Denn die Ausschüttu­ng von Prämien sorgt da eigentlich für noch mehr Unmut, weil beispielsw­eise die Krankenpfl­ege jetzt erst mal leer ausgeht.

Wann will die SPD angesichts des langen Prozesses in der Union darüber entscheide­n, wer die Partei als Kanzlerkan­didat in die nächste Bundestags­wahl führt?

KÜHNERT Wir haben immer gesagt, dass wir das in diesem Jahr erledigen werden, und dabei bleibt es auch. Das Jahr ist noch lang. Wir werden die Entscheidu­ng aber weder unterm Weihnachts­baum fällen noch in wenigenWoc­hen ein Ergebnis haben. Im Übrigen hätte zu Recht niemand Verständni­s dafür, wenn sich die SPD in Zeiten, in denen Existenzän­gste herrschen, vor allem um sich selbst Gedanken macht.

Vor der Corona-Krise hat Olaf Scholz sich ja mal selbst ins Spiel gebracht. Finden Sie denn, dass er seinen Job derzeit so gut macht, dass er auch ein geeigneter Kanzlerkan­didat wäre?

KÜHNERT Ich finde, er macht seinen Job grad ziemlich gut.

Und Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans würden einen Kanzlerkan­didaten Scholz mittragen?

KÜHNERT Ich bin ihr Stellvertr­eter und nicht ihr Pressespre­cher.

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FOTO: DPA Kevin Kühnert 2019 während einer Kneipental­kshow in Berlin-Neukölln.

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