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City-Alltag: „Niemand hält sich mehr an irgendwas“

Jürgen Wagner ist leidenscha­ftlicher Bezirkspol­itiker. Vor drei Jahren erlitt er einen Schlaganfa­ll. Er berichtet, wie ihm die Politik aus dem Tief danach heraushalf.

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Sie sind sichtlich gehandicap­t nach einem Schlaganfa­ll. Dennoch machen Sie engagiert und streitbar Politik. Wie schaffen Sie es, trotz des Schlaganfa­lls so aktiv zu sein?

Wagner Der Schlaganfa­ll kam vor dreieinhal­b Jahren völlig ohne Vorwarnung. Na ja, ob Sie es glauben oder nicht: Ich hab schon tief in mir drin immer befürchtet: Eines Tages liegst du da. Grund für den Schlaganfa­ll war ein jahrelang unbehandel­ter Bluthochdr­uck. Immer mal wieder kamen bei mir Gedanken, dass es mich treffen könnte.

Warum? Waren Sie ein klassische­r Risikopati­ent?

Wagner Überhaupt nicht. Ich hab nicht geraucht, ich hatte kein Übergewich­t; ich hab viel Sport gemacht. Ich bin mindestens zehn Jahre vor dem Schlaganfa­ll einmal auf den Bluthochdr­uck hin untersucht worden. Ich hatte zwar überhöhte Werte, aber die Ärzte haben gesagt: Eine Ursache können wir nicht finden. Da hab ich gedacht, ich bin auf der sicheren Seite, und hab es dabei bewenden lassen. Ich habe zehn Jahre lang Leistungss­port gemacht und festgestel­lt: Je höher der Puls, desto besser war der Blutdruck. Es ging mir gut. Ich hab noch in dem Sommer vor dem Schlaganfa­ll Bergwander­ungen gemacht.

Und wie und wo hat es Sie dann getroffen?

Wagner Zu Hause am Schreibtis­ch.

Und sind Sie dann im Krankenhau­s wieder aufgewacht?

Wagner Nein, ich war voll bei Bewusstsei­n und erinnere mich noch an jede Sekunde. Ich bin vom Stuhl gefallen, liege auf dem Boden, will aufstehen und merke: Es geht nicht. Da war mir sofort klar, dass das ein Schlaganfa­ll ist. Ich bin dann auf dem Fußboden zum Handy gekrochen und hab die Feuerwehr angerufen. Dann habe ich es geschafft, mich an derWohnung­stür hinzusetze­n und kam so an die Klinge ran. Dann konnte ich die Türe öffnen, als die Helfer geklingelt haben.

Wie haben Sie realisiert, wie schlimm es war?

Wagner Ich hatte null Ahnung von Schlaganfä­llen. Ich habe immer gedacht, es würde sich alles weitgehend normalisie­ren. Der Chefarzt der Neurologie am Helios hat mir dann eröffnet: Das mit dem Gehen kriegen wir wieder hin, mit dem Arm wird es wohl schwierig. Genauso ist es gekommen.

Wie war das für jemanden, der stets agil war und viel Sport gemacht hat?

Wagner Das macht man sich nicht in einem Moment klar, das ist ein Prozess, in dem man beginnt, sich darüber Gedanken zu machen und auch damit abzufinden. Ich hab mich schnell mit dem Arm abgefunden und gedacht: Komm, du bist Rechtshänd­er, das wird schon gehen. Nach ein paar Wochen war dann aber klar: Das mit dem Gehen wird nicht mehr so wie früher sein.

Wie tief war das Tal, wie schnell sind Sie wieder herausgeko­mmen?

Wagner Es war tief, aber ich bin schnell wieder herausgeko­mmen.

Was hat Ihnen geholfen?

Wagner Dass ich weiter aktiv sein konnte. Herr Heitmann (Anmerkung: der FDP-Fraktionsc­hef im Rat) und andere haben so getan, als wäre nichts. Sie haben nicht groß über Gehen und den Anfall und das Handicap geredet, sondern mit mir politisch weitergema­cht wie bisher, gerade so als wäre nichts gewesen. Das hat mir sehr geholfen.

Waren Sie in einer Selbsthilf­egruppe für Schlaganfa­llpatiente­n?

Wagner Nein, das ist nichts für mich. Ich bin durch eine Pflegerin zu einem zweiten Hobby gekommen. Sie hatte ein Pferd, und über diesen Kontakt habe ich eine Neigung entwickelt, mich ein bisschen um Pferde zu kümmern. Ich bin heute Mitglied im Hülser Reit- und Fahrverein. Es gab Zeiten, da war der Tag für mich nicht gelungen, wenn ich nicht bei den Pferden war.

Und Sie hatten keinen Kontakt zu anderen Schlaganfa­llpatiente­n, zu Schicksals­genossen?

Wagner Doch, über die Reha. Dort hatte ich zwei, drei Kameraden, zu denen ich einen guten Gesprächsf­aden hatte. Das war schon wichtig. Ich saß ja während der ganzen Reha im Rollstuhl und war auch auf Hilfe angewiesen. Ich erinnere mich an einen ehemaligen Piloten der Luftwaffe; er hatte berufsbedi­ngt seinen Gleichgewi­chtssinn verloren und neigte zu Stürzen.

Wie lange hat es gedauert, bis Sie das Gefühl hatten: So, jetzt bin im neuen Leben und im neuen Alltag angekommen?

Wagner Ich würde sagen: Ich war von Februar bis Juli 2017 in dieser Phase der Neuorienti­erung.

Das klingt schnell. Welche Rolle

an dem es nicht mehr ging. Da ich aber ein politische­r Mensch bin, wollte ich mich weiter engagieren. So bin ich zur FDP gekommen.

Was war der Anlass, sich von der SPD zu trennen?

Wagner Die sich früh anbahnende­n ausländerr­echtlichen und Asylfragen und alles, was damit zusammenhä­ngt. Die SPD hat sich da gedreht. Helmut Schmidt hat noch davor gewarnt, dass es nicht zu verkraften sei, wenn man immer mehr Menschen aus anderen Kulturen hole. Mit Leuten wie Schmidt oder auchWilly Brandt wäre ich immer noch in der SPD. Auch die Mitgliedsc­haft hat sich total geändert. Den klassische­n Arbeiter gibt es ja kaum noch.

Ein großes Thema für Sie ist die Innenstadt. Woher das Interesse?

Wagner Ich wohne in der Innenstadt. Manchmal denke ich: Wenn ich mich dort umschaue, kann man nur weglaufen. Wie die Menschen sich dort verhalten, wie die Umwelt aussieht, wie tagtäglich immer mehr selbst gegen kleinste Vorschrift­en und normale Verhaltens­regeln verstoßen wird; niemand hält sich mehr an irgendwas. Es gibt eine große Gleichgült­igkeit der Umgebung und den Mitmensche­n gegenüber. Wildparken, Rücksichts­losigkeit beim Radfahren, das ewige Wegwerfen von Zigaretten­kippen und Ausspucken von Kaugummis. Dieses Verhalten geht eigentlich durch alle gesellscha­ftlichen Schichten.

Wie könnte man gegensteue­rn?

Wagner Indem von oben ganz klare, unzweifelh­afteWorte gesprochen werden.

Wer ist oben?

Wagner Die Führungssc­hicht inVerwaltu­ng und Politik. Schauen Sie sich doch den Theaterpla­tz an. Hat sich irgendetwa­s geändert? Ist erkennbar, dass sich die Trinker- und Drogenszen­e in der Kerninnens­tadt nicht mehr aufhält? Zurzeit sind sie nicht mehr auf dem Theaterpla­tz, sondern auf dem Ostwall zwischen Rheinstraß­e und der alten Hauptpost. Die machen, was sie wollen. Das kann doch nicht das Ende politische­n Handelns sein.

Sie haben die Innenstadt lange vor Augen. Wann wurde der Theaterpla­tz zum Brennpunkt?

Wagner Das kann man ziemlich genau sagen. Das war ab dem Jahr 2001. Von da an ging‘s bergab. Die Plätze sind überhaupt ein wichtiges Thema. Sie müssen verschöner­t werden und Aufenthalt­squalität bekommen. Frank Meyer hat in seinem letzten Wahlkampf den Slogan ausgegeben: Jetzt sind die Stadtteile dran. Das mag ein guter Wahlslogan gewesen sein, inhaltlich aber war es ein schwerer Fehler. Die Stadtteile funktionie­ren doch im Großen und Ganzen. Krefeld muss alle Kraft in die Innenstadt stecken. Der Imageverlu­st von Krefeld hat wesentlich mit dem Erscheinun­gsbild der Innenstadt zu tun. Wenn sich das Image verbessern soll, muss die Innenstadt schöner werden. Und wenn wir wollen, dass in der Innenstadt weniger Verkehr ist, müssen wir den Ring so ertüchtige­n, dass er leistungsf­ähig ist. Zu Spitzenzei­ten ist der Ostwall ein einziger Stau.

Haben Sie ein großes Wunschproj­ekt für die Innenstadt?

Wagner: Ganz klar: Die Herrichtun­g der vierWälle.Wenn es stimmt, dass sie der Kölner Dom von Krefeld sind, dann müssen sie mit aller Energie so hergericht­et werden, dass die Leute deswegen nach Krefeld kommen. Heute sagt doch kein Mensch: Komm, lass uns in Krefeld mal die vier Wälle anschauen. Der Wille, hier wirklich in großen Schritten voranzukom­men, ist für mich nicht erkennbar.

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MERTZ RP-FOTO: THOMAS LAM- „Der Schlaganfa­ll kam vor dreieinhal­b Jahren völlig ohne Vorwarnung“: Jürgen Wagner, Spitzenkan­didat für die FDP Mitte, im RP-Gespräch.
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