Rheinische Post Krefeld Kempen
„Schulen und Kitas müssen jetzt öffnen“
Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin ist überzeugt, dass Kinder als Überträger von Coronaviren kaum eine Rolle spielen.
Symptome und Krankheitsverlauf von Covid-19 galten bei Kindern bisher als harmlos. Gilt diese Einschätzung noch?
BOSSE Im Prinzip ja. Denn bei den allermeisten Kindern verläuft die Infektion in der Tat sehr milde. Dabei muss man zwei Phasen der Erkrankung unterscheiden: Zunächst dringt das Virus in den Körper ein und sorgt dann für die typischen Symptome wie Husten und Fieber. Gerade diese Anfangsphase ist bei Kindern nachweislich schwach oder gar nicht ausgeprägt. Erst in einer zweiten Phase kann es zu einer Überreaktion des Immunsystems kommen. Dies kann zu entzündlichen Schädigungen von Organen und Blutgefäßen führen.
Ist diese zweite Phase das derzeit vielbeschriebene Kawasaki-Syndrom? Was ist dran an der Vermutung, dass Corona diese Krankheit befördert?
BOSSE Das ist aktuell unklar. Ein Zusammenhang ist zwar wahrscheinlich, und ja: Wenn es ihn gibt, dann bezieht er sich auf die zweite Erkrankungsphase von Covid-19. Aber weder lassen sich an den bisher bekannten Fällen klare Muster erkennen noch Risikopatienten ausschließen. Wir hatten in der Kinderklinik tatsächlich zwei Kinder, die bereits virusfrei waren und deren Immunsystem bereits Antikörper gebildet hat – und dann noch weiterreagiert hat. Beide Kinder sind wieder gesund entlassen.
Wie hoch sind Fallzahlen und Erkrankungsrate bei Kindern?
BOSSE Alle Daten aus den weltweiten Hotspots zeigen, dass nur etwa jeder 50. Patient ein Kind ist. Die allermeisten Verläufe sind völlig harmlos. Die Fallzahlen in Deutschland bestätigen dies: Von den rund 174.000 Infektionen (Stand 20. Mai) waren etwa 1800 Kleinkinder und 4000 Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre. Bisher gab es einen Todesfall. Aber immerhin sind aktuell deutschlandweit 20 Kinder auf einer Intensivstation in Behandlung, und nur die Hälfte davon hatte eine bedeutsame Vorerkrankung.
Werden Ihrer Erfahrung nach andere Arztbesuche vernachlässigt aus Angst vor Corona?
BOSSE Auf jeden Fall. Wir beobachten in unserem Klinikalltag, dass so gut wie gar keine Bagatellfälle mehr kommen. Die Zahl der schwerer erkrankten Kinder ist dagegen gleich geblieben. Allerdings kommen Eltern derzeit häufig eher einen Tag später mit ihren kranken Kindern, als es eigentlich nötig wäre.
Wie viele kleine Corona-Patienten haben Sie bisher behandelt?
BOSSE Bisher waren fünf Kinder mit Covid-19 in unserem Haus. Alle haben die Klinik gesund verlassen. Die niedrige Zahl verdanken wir auch dem Düsseldorfer Gesundheitsamt. Dort hat man frühzeitig und intensiv gestestet und so tatsächlich die Spitze der Erkrankungswelle für Düsseldorf weggeschmolzen. Wäre dies nicht so hervorragend gelungen, hätten wir möglicherweise in der Corona-Hochphase 30 Kinder stationär aufnehmen müssen. Das wäre angesichts der doch extrem aufwändigen Behandlung eine große Belastungsprobe gewesen.
Gibt es unter Kindern auch Risikogruppen?
BOSSE Ja, übergewichtige Kinder und Lungenkranke könnten ein erhöhtes Risiko haben. Studien haben aber gezeigt, dass etwa durch Krebs immungeschwächte Patienten kein prinzipiell höheres Erkrankungsrisiko haben. Im Gegenteil: Die gefährliche zweite Phase, in der das Immunsystem überreagiert, tritt in dieser Gruppe wahrscheinlich viel seltener auf. Trotzdem gilt natürlich: Wir müssen gerade diese Kinder besonders vor Infektionen schützen.
Was ist mit Kleinkindern und Neugeborenen?
BOSSE Deutschlandweit wurden bisher 13 Neugeborene mit Covid-19 registriert, keines davon ist schwer erkrankt. Natürlich gibt es klare Empfehlungen, wie erkrankte Eltern mit ihren Säuglingen umgehen müssen, eine gewisse Distanz muss gewahrt bleiben. Wenn dies nicht mehr gewährleistet ist, stecken Eltern natürlich auch die Kleinsten an. In den Hochphasen war dies in Italien und China der Fall.
Welche Wege der Infektion und Ansteckung gibt es?
BOSSE Die Tröpfcheninfektion durch Niesen oder Husten ist der
Haupt-Übertragungsweg. Dies ist ein wichtiger Aspekt für das Infektionsrisiko durch Kinder: Weil diese in der Regel wegen ihres milden Krankheitsverlaufes selten und schwach husten und niesen, verstreuen sie die Coronaviren viel weniger intensiv als etwa infizierte Erwachsene. Zweite Übertragungsmöglichkeit sind Aerosole, also Partikel, die in der Luft schweben bleiben. Die können sich in geschlossenen Räumen anreichern, wo viele Menschen laut sprechen, singen, husten. Eine dritte Infektionsmöglichkeit ist die Schmierinfektion.
Also sind Corona-infizierte Kinder nicht so infektiös wie Erwachsene?
BOSSE Ja, das ist eindeutig so. Kinder sind zwar genauso häufig infiziert wie Erwachsene und scheiden auch das Virus durchaus in großen Mengen aus. Aber sie sind keine großen Corona-Virenüberträger, weil sie häufig nahezu symptomfrei sind. Es gibt zahlreiche Studien zu Übertragungsketten, also Clustern, auf der ganzenWelt. Kinder können zwar das Virus übertragen, aber keine der Studien brachte Belege dafür, dass Kinder das im großen Stil tun – in Schulen fanden sich keine Cluster. Im Gegensatz zur Influenza: Hier gelten Kinder als regelrechte Motoren der Virenübertragung.
Bei der alljährlichen Influenza-Welle werden aber keine Schulen und Kitas geschlossen. Ist das nicht unlogisch?
BOSSE Ja, meiner Ansicht nach können und müssten Schulen und Kitas jetzt öffnen. Natürlich unter strikten hygienischen Rahmenbedingungen. Aber gerade die unter Zehnjährigen erkranken nachweislich gar nicht oder nur sehr milde. Sie sind daher auch kaum Überträger im großen Stil. In der Grundschule könnte man sogar überlegen, im Unterricht auf den Mund-Nasenschutz zu verzichten. Jedenfalls ist der Schaden durch die massive Bildungsungerechtigkeit, die aktuell durch die lange Schließung entsteht, ungleich größer.
Welche Folgen beobachten Sie dabei?
BOSSE Vor allem sorge ich mich um die Probleme, die durch die lange Schulschließung entstehen. Was machen jetzt Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, wo kein Computer steht oder niemand helfen kann beim Lesen und Schreiben? Wir beobachten psychische Erkrankungen bei Kindern durch fehlende soziale Kontakte. Und Kleinkinder, die völlig von der Rolle sind durch fehlende Bewegung und ohne feste Tagesstrukturen. Und auch die Jugendlichen sind gefrustet und deprimiert, weil ihnen soziale Kontakte fehlen und die eine oder andere Abschlussfeier nach der Schule oder Ausbildung genommen wurde. Leider werden besonders die Jugendlichen stärker auf die Hygieneregeln achten müssen als Kinder – mit dem Lebensalter steigen Schwere der Erkrankung und Komplikationsraten.
Was wünschen Sie sich für die Zeit nach den Sommerferien?
BOSSE Dass man auf das klare aktuelle Votum unserer Fachleute, der Fachgesellschaften für Kinderheilkunde, hört und die Schulen für den regulären Betrieb öffnet. Es ist medizinisch und wissenschaftlich erwiesen, dass Schulschließungen fast keinen zusätzlichen Nutzen zu den anderen aktuellen Maßnahmen gebracht haben für den Infektionsschutz.
Was brauchen wir denn?
BOSSE Es gibt drei extrem wichtige Aspekte: Wir müssen Infizierte sofort identifizieren und isolieren. Wir müssen deren Umgebung testen und in Quarantäne bringen, weil Infizierte auch am Tag vor den Symptomen das Virus übertragen können. So unterbrechen wir die Infektionsketten, also die Cluster. Und wir müssen alte und vorerkrankte Menschen schützen. Wenn wir diese Maßnahmen in der Gesellschaft konsequent umsetzen, muss keine Schule und keine Kita geschlossen werden.
Wenn es eines Tages eine Impfung gibt, wäre sie dann auch für Kinder geeignet?
BOSSE Das hoffe ich. Die Frage wird aber dann sein, ob Kinder überhaupt geimpft werden müssten. Erst wären die Risikogruppen dran, dann Personal in medizinischen und pflegerischen Brennpunkten und erst danach die normale Bevölkerung. Kinder unter zehn Jahren wären nach dem heutigen Stand nicht zwingend Kandidaten für eine Impfung.
REGINA HARTLEB FÜHRTE DAS GESPRÄCH