Rheinische Post Krefeld Kempen
„Es gab einen Paradigmenwechsel“
Die Studie zum Insektenschwund war 2017 weltweit ein Fanal. Wir sprachen mit Martin Sorg über die Folgen.
Sie haben mit Ihrer Studie weltweit für Aufsehen besorgt. Es gab Presseveröffentlichungen in Weltklasseblättern, von New York Times bis zu National Geographic, das Interesse ist bis heute nicht erlahmt. Wie haben Sie das erlebt?
Sorg Für die Mitglieder ist das belastend. Es hat natürlich auch Vorteile. Im wissenschaftlichen Sektor ist es immer gut, dass die Arbeit anerkannt wird. Es gab diese Anerkennung aber auch vorher schon. Wir bewegen uns mit unserer Forschung auch vor der Studie von 2017 und auch danach an der Belastungsgrenze. Mehr ist nicht zu leisten, ohne noch mehr qualifizierte Entomologen. Die müssten aber erst noch ausgebildet werden und dann Erfahrungen sammeln.“
Gab es noch einmal einen Forschungsschub nach der Veröffentlichung der Studie zum Insektenschwund?
Sorg Breit gestreute internationale Kontakte in die Welt hinaus zu Universitäten und Museen gab es vorher schon. Was sich geändert hat, ist die Zahl der Einladungen zu Tagungen, Kongressen und Meetings. Früher haben wir uns angemeldet wie alle anderen, heute werden wir eingeladen, vor allem, wenn es um das Thema Biodiversitätsverluste geht. Ich war im vergangenen Jahr bei ungefähr 35 Veranstaltungen. Das ist das Maximum für mich, mehr geht nicht. Auf der einen Seite sieht man die Notwendigkeit, Wissen zu kommunizieren, aber das Limit ist erreicht.
Hat sich die Wahrnehmung des Entomologischen Vereins in der breiten Öffentlichkeit geändert? Hatten Sie den Eindruck, dass der Verein vor dieser Studie als Club von Hobby-Schmetterlingssammlern unterschätzt wurde?
Sorg Die Unkenntnis Dritter kann ich nicht beurteilen. Der Verein war ja auch in den Generationen vor der Studie zum Insektenrückgang als wissenschaftlich arbeitende entomologische Gesellschaft bekannt. Siegfried Cymorek zum Beispiel, der vor mir die Position als Kurator für die Sammlung hatte, hat einen Ehrendoktortitel der ETH Zürich bekommen. Das ist schon etwas Ungewöhnliches, vor allem für jemanden, der nicht an einer Universität arbeitet. Auch Alfons Evers und Hans Goecke wurden als Krefelder Entomologen mit Ehrendoktortiteln ausgezeichnet. Sowas haben wir übrigens noch nicht, insofern war die Generation vor uns erfolgreicher (lacht).
Haben Sie den Eindruck, dass nach dem Erkenntnisschock über den Insektenschwund politisch etwas in Bewegung geraten ist zugunsten von mehr Naturschutz?
Sorg Was man erkennen kann, ist schon so eine Art Paradigmenwechsel. Insekten werden in einer anderenWerteebene eingeordnet. Ob das genug Bewegung ist, sei dahingestellt. Was wir dokumentiert haben, ist ein langsam fortschreitender Verlust. Deshalb sind Begriffe wie Apokalypse und Armageddon fachlich falsch. Es geht nicht um ein großes Ereignis zu einem Zeitpunkt, sondern um einen Prozess der schleichend über viele Jahrzehnte abläuft. Außerdem wird dieser Prozess durch unsere Art im Umgang mit der Natur bewusst oder unbewusst gesteuert. Da wir am Steuer sind, ist es in unserer Verantwortung wohin die Reise geht.
Aber die Wahrnehmung der Menschen wird darin schon gespiegelt. Plötzlich wird einem bewusst, dass zwei Drittel der Insekten einfach weg sind. Das Magazin National Geographic hat das in seiner Reportage über die Entomologen wunderbar visualisiert: Ein Glas, gefüllt bis zum Rand mit Insekten, daneben ein Glas, nur noch zu einem Fünftel mit Insekten gefüllt. Was passiert mit den Proben, die hier ankommen?
Sorg Das stimmt, es ist erfreulicherweise so, dass heute auch die Mengenunterschiede stärker berücksichtigt werden. Es geht eben nicht nur um Rote Listen und Arten, die verschwinden, es geht auch um die schiere Menge, die vorhanden sein muss, um ökologische Funktionen zu erfüllen. Viele Arten sind zwar noch nicht vom Aussterben bedroht, aber bei einer erheblichen Reduktion der Individuenzahlen können sie die Funktionen, die sie dort im Ökosystem haben, nicht mehr ausfüllen. Dass solche Arten noch keinen Eintrag in der Roten Liste ha
ben, heißt also nicht, dass es nicht längst massive Auswirkungen auf die Natur gibt. Funktion meint Dinge wie zum Beispiel Blütenbestäubung, Zersetzung von pflanzlichem Material, Ernährung für Vögel. Nahezu alle Funktionen in terrestrischen Ökosystemen werden maßgeblich von Insekten mitbestimmt. Heißt auch: Alle diese Funktionen leiden, wenn es in einem Biotop immer weniger Insekten gibt. Schreiten diese Degradierungen in der Natur fort, so kommt es dann zu regionalen Aussterbeprozessen. Dieser Verlust an Arten in ganzen Regionen ist in der Folge etwas, was wir unseren nachfolgenden Generationen als Schäden sozusagen „nachhaltig“vererben.
Die Forschung geht weiter. Woran arbeiten Sie?
Sorg Wir sind an einigen Kooperationsprojekten mit Universitäten und anderen Institutionen beteiligt, die in den letzten Jahren gestartet sind und uns eine sehr hohe Zahl an neuen Proben bringen. Wir bekommen zur Zeit alle 14 Tage mehr als 30 Pakete mit Insektenproben im Rahmen von Forschungsprojekten. Die Proben werden hier ausgewertet und archiviert und in Teilen dann für genetische Untersuchungen weitergegeben, z.B. an das Museum A. Koenig in Bonn. Bei diesen Projekten geht es auch um Biodiversitätsstudien und den Einfluss von Landnutzungstypen auf Schutzgebiete.
Wo kommen die Proben her? Und ist bei einem solchen Zufluss nicht absehbar, dass der Platz hier nicht mehr ausreicht?
Sorg Die Proben kommen aus ganz Europa, sehr viele aus Deutschland, teils derzeit auch aus französischen Nationalparks. Und die Raumfrage ist insofern heikel, weil wir gehalten sind, diese Proben nicht nur zu bearbeiten, sondern auch aufzubewahren, da sie wissenschaftlich extrem wertvoll sind. Insofern stoßen wir langsam an Grenzen. Der Seminarund Schulungsraum wurde schon im letzten Jahr zum Zwischenlager umfunktioniert. Das dieses Archiv in Krefeld auch internationale Bedeutung hat, scheint ja inzwischen weltweit bekannt zu sein.
Wie sind Sie eigentlich zur Ento
mologie gekommen?
Sorg Die Meisten, die sich für Entomologie interessieren, fangen schon als Kind an. Das war bei mir auch so. Faszinierend an der Entomologie ist die Vielfalt. Sie finden in einem größeren Garten vielleicht ein paar Vogelarten, aber mehr als tausend Insektenarten. Entomologie fängt bei der Hinwendung zu dieser Vielfalt der rund 33.400 Insektenarten an, die allein in Deutschland bekannt sind und unfassbar vielfältige Funktionen in allen ökologischen Zusammenhängen ausüben. Entomologie war das, was ich aus Interesse machen wollte, auch im Studium und später beruflich. Wie viele Arten es weltweit gibt, ist im Übrigen weitgehend unbekannt. Selbst die Zahl der Insektenarten in Deutschland ist nicht umfassend geklärt. Wir sind unter anderem an dem Projekt Barcode of Life beteiligt, bei dem es um die systematische Beschreibung, die genetische Entschlüsselung noch unbekannter Arten und den Aufbau von Referenzbibliotheken geht.
Gab es für Sie persönlich einschneidende Veränderungen?
Sorg Als die Studie veröffentlicht wurde, klingelte bei mir zu Hause ununterbrochen das Telefon. Ich stand schließlich ganz normal im Telefonbuch. Ich hab dann den Stecker vom Festnetz gezogen und seitdem nicht wieder eingesteckt.