Rheinische Post Krefeld Kempen
Darum ist es so oft Gift
Viktor Juschtschenko, Alexander Litwinenko, Sergej und Julia Skripal, zuletzt Alexej Nawalny: Sie und viele andere wurden Opfer mysteriöser Anschläge mit toxischen Substanzen. Gift ist nicht zufällig erste Wahl, wenn es um die Beseitigung politischer Gegn
ten einsam. Familienangehörige, Freunde, Gesinnungsgenossen werden Zeugen ihres qualvollen Verfalls. Das ist Absicht der mysteriösen Auftraggeber – und Teil ihrer Botschaft: So kann es gehen, wenn man sich mit uns anlegt. Auch ihr seid gemeint. Auch euch kann es treffen. Jederzeit. Überall. Ihr seid schutz- und machtlos. Eine Chance, jemals den Schuldigen zu finden und Gerechtigkeit zu erlangen, habt ihr nicht.
Im Fall des einstigen KGB-Offiziers Alexander Litwinenko, der 2003 zu den Briten übergelaufen war, nahm sogar die ganze Welt an seinem Sterben teil. Es gibt dieses ikonische Bild, es zeigt Litwinenko im November 2006 nach dreiwöchigem Martyrium, wie er ohne Haare im Hospital liegt, in die Kamera blickt und aufgegeben hat. Wenige Stunden, bevor er das Bewusstsein verliert, sagt er der „Times“noch, der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht. Erst spät wird in seinem Körper radioaktives Polonium entdeckt.
Nach dem Exitus des Opfers beginnt das Finale der Verschleierung. Ein politischer Giftmord, so hohe Wellen er am Ende auch schlagen mag, bietet die ideale Plattform für Nebelmaschinen, die den Blick auf die Tatsachen trüben sollen. War das Opfer vielleicht krank? Hatte es getrunken? War es süchtig? Nahm es Medikamente? Wenn ja, vielleicht die falschen? So war es ebenfalls im Fall Nawalny. Ob der Kreml auch hinter dieser Attacke steckt, lässt sich wie bei den anderen Verdachtsfällen wohl nie eindeutig beweisen. Die Tatsache aber, dass der russische Geheimdienst Nawalny lückenlos überwachte, lässt den Schluss zu, dass Moskau den oder die Täter zumindest deckt.
Und auch das ist durchaus ein Teil der Drohung:Wir könnten durchaus unsere Finger im Spiel haben. Aber wir werden so lange so viele Behauptungen verbreiten, bis die Wahrheit am Ende nur noch eine unter vielen Versionen ist. Auch wenn sie so abstrus klingen wie die Unterstellung des Vorsitzenden der russischen Staatsduma,Wjatscheslaw Wolodin, der die Frage aufwarf, ob die Vergiftung Nawalnys nicht tatsächlich eine Provokation Deutschlands sei.
Der Anschlag auf Nawalny ist missglückt. Ebenso wie die Dioxin-Attacke auf den ukrainischen Oppositionspolitiker Viktor Juschtschenko, der im Wahlkampf 2004 gegen den damaligen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch antrat – einen Freund Putins. Und auch der frühere russische Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia überlebten das Nervengift Nowitschok, das in ihre Körper gelangt war. Beide scheinen jedoch abgetaucht zu sein, und auch der noch immer von der Vergiftung gezeichnete Jutschenko entgegnete erst kürzlich auf die Frage, ob er glaube, dass Putin der Auftraggeber gewesen sei:„Ich kenne die Antwort, aber ich kann sie nicht aussprechen.“
Nawalny hingegen beabsichtigt offenbar nicht zu schweigen.„Die russische Führung hat einen solchen Hang zu Vergiftungen entwickelt, dass die so bald nicht aufhören werden. Da wird meine Krankengeschichte noch lehrreich sein“, sagte er im „Spiegel“. Sobald es seine Gesundheit zulasse, werde er in Moskau weitermachen. Und dann? Diese Frage ist so offen wie die, inwiefern das Gift, das Nawalny galt, die Beziehungen Deutschlands, der Europäischen Union, des ganzen freien Westens zu Russland verändern wird.
Opfer von Giftanschlä
gen sterben aus bestimmten Gründen vergleichsweise langsam und selten allein