Rheinische Post Krefeld Kempen
Wirecard, die Wahl und die Schuld
Die Prominenz gibt sich im Untersuchungsausschuss die Klinke in die Hand. Kanzlerkandidat Scholz könnte das am ehesten schaden.
BERLIN Wer trägt für den größten Wirtschaftsskandal in der Nachkriegsgeschichte die größte politische Mitverantwortung? Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Wirecard-Skandal vernimmt in dieser Woche prominente Zeugen. Am Dienstag machte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) den Anfang. Am Mittwoch kommt Finanzstaatssekretär Jörg Kukies (SPD), den viele als eine politische Schlüsselfigur betrachten, vor den Ausschuss, am Donnerstag folgt SPD-Kanzlerkandidat und Finanzminister Olaf Scholz und am Freitag schließlich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) höchstselbst.
Je nach Couleur setzen die Koalitionsparteien im heraufziehenden Bundestagswahlkampf ihre Schwerpunkte: Die SPD strich am Dienstag Fehler Altmaiers heraus. Der Wirtschaftsminister war für die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) zuständig, die die um Milliardensummen aufgeblähten Wirecard-Bilanzen jahrelang abgenickt hatten.
Die Union wiederum wird an diesem Mittwoch und Donnerstag die SPD aufs Korn nehmen: Staatssekretär Kukies war im Finanzministerium für die Finanzaufsicht Bafin zuständig. Er hatte noch bis zum Sommer 2020 mit Wirecard-Chef Markus Braun persönlichen Kontakt, Tage später war das vermeintliche Vorzeigeunternehmen pleite.
Der für Juni erwartete Abschlussbericht der Untersuchungen könnte Kukies' Dienstherrn, SPD-Finanzminister Scholz, am ehesten schaden, schließlich möchte der 61-Jährige der nächste Bundeskanzler
werden. Lachende Dritte dieses Spiels sind die Oppositionsparteien: Grüne, FDP, Linke und AfD teilen gegen Union und SPD gleichermaßen aus.
Der Zahlungsabwickler Wirecard war im Juni 2020 nach Bekanntwerden milliardenschwerer Luftbuchungen in die Pleite gerutscht. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Bilanzfälschung, bandenmäßigen Betrugs, Marktmanipulation und Geldwäsche. Mehrere Ex-Vorstände, darunter Braun, sitzen in Untersuchungshaft oder sind auf der Flucht. Der mutmaßliche Haupttäter, der frühere Wirecard-Manager Jan Marsalek, ist untergetaucht. Er wird in der Nähe von Moskau vermutet, wo er unter dem Schutz des russischen Geheimdienstes stehen soll, mit dessen Hilfe er geflohen sein soll.
Der Finanzaufsichtsbehörde Bafin wird Versagen vorgeworfen, ebenso der Wirtschaftsprüfer-Aufsicht Apas. Die SPD erklärte am Dienstag, Wirtschaftsminister Altmaier habe Reformen bei der Apas blockiert, jetzt stemme er sich gegen strengere Haftungsregeln für Wirtschaftsprüfer. „Die Lobby ist mit voller Kraft am Werk und findet viele offene Türen bei unserem Koalitionspartner“, sagte die SPD-Abgeordnete Cansel Kinziltepe.
SPD und FDP forderten, einen Sonderbericht zur EY-Rolle, den sogenannten Wambach-Bericht zu veröffentlichen, der jetzt in der Geheimschutzstelle des Bundestags liegt. EY verweigere dies unter Verweis auf Geschäftsgeheimnisse. FDP-Politiker Florian Toncar sagte, bei der Erteilung der Testate durch EY seien erhebliche Fehler gemacht worden. Normale Standards seien nicht eingehalten worden, obwohl immer wieder Dokumente fehlten. Das vom Ausschuss eingesetzte Team um den Experten Martin Wambach brauche mehr Zeit, der Komplex müsse noch bis zur Bundestagswahl untersucht werden.
„Es ist schon auffällig, dass die Heerschar an Wirecard-Lobbyisten im Bund und in Bayern fast durchweg Parteibücher von CDU oder CSU hat, darunter mit zu Guttenberg ein ehemaliger Bundesminister, mit Beckstein, Carstensen und von Beust drei ehemalige Ministerpräsidenten“, sagte auch Toncar. „Im Kanzleramt hat ebenfalls eine Verlotterung der Sitten stattgefunden: die Bundeskanzlerin hat zu Guttenberg den Gefallen getan, in China für dessen Kunden Wirecard zu werben“, sagte der FDP-Politiker.
Merkel hatte noch im Spätsommer 2020 bei einem Staatsbesuch in China für Wirecard geworben, obwohl damals bereits zahlreiche Medienberichte, darunter vor allem in der Londoner „Financial Times“, von Unregelmäßigkeiten bei Wirecard berichtet hatten.
Stärker allerdings wird der Fall Wirecard Scholz' Wahlchancen im September beeinträchtigen, ist Toncar überzeugt. „Der Fall Wirecard wird an Olaf Scholz hängenbleiben – zu folgenschwer waren die Fehler der Finanzaufsicht, und zu lange hat der Minister gezögert, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen“, sagte Toncar. Vor allem sei nicht erklärbar, „warum Scholz seinen Vertrauten Jörg Kukies bis heute kategorisch schützt“. Das könne darauf zurückzuführen sein, dass der Minister von Kukies sehr viel enger in den Fall Wirecard eingebunden worden sei als bisher bekannt.