Rheinische Post Krefeld Kempen
Übergewicht, Depressionen, Angstzustände
Kinderärzte schlagen wegen der Folgen sozialer Isolation und mangelnder Betreuung durch Corona Alarm.
BERLIN Thomas Fischbach ist besorgt. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte bekommt in seiner Praxis in Solingen jeden Tag hautnah mit, welche Folgen die Corona-Pandemie für die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft hat. „Wir Kinder- und Jugendärzte beobachten sehr häufig Entwicklungsstörungen und psychische sowie körperliche Erkrankungen, die direkt auf die Auswirkungen der Pandemie zurückzuführen sind“, sagt er. „Immer mehr Kinder leiden an Übergewicht, fehlender Motivation, Depressionen, Angstund Zwangsstörungen sowie einem Mangel an sozialen Kontakten.“Insbesondere Kinder aus Familien, in denen die Eltern zu wenig Abwechslung anbieten oder sich nicht ausreichend kümmern können, blieben auf der Strecke, sagt Fischbach.
Als im Frühjahr 2020 Bund und Länder handeln, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, werden in den meisten Regionen auch die Schulen und Kitas geschlossen, lediglich Notbetreuung ist teilweise erlaubt. Seitdem fallen die Regierungsverantwortlichen in den Verordnungen immer wieder auf dieses Mittel zurück, wenn die Inzidenzzahlen zu stark steigen. Derzeit gilt für Schulschließungen die in der Bundes-Notbremse vereinbarte Grenze von 165 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche.
Michael Schroiff, Vorsitzender des Verbandes der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, warnt, in manchen Regionen seien die Anfragen bei Kliniken für Psychiatrie um die Hälfte gestiegen in der Corona-Krise. „Das ist ein erschreckend hoher Wert.“Er pocht deswegen auf eine andere Herangehensweise. „Es war richtig, im vergangenen Jahr Kitas, Schulen und Freizeitangebote zu schließen, weil die Verbreitung des Virus erforscht werden musste. Mittlerweile wissen wir darüber aber schon sehr viel“, sagt Schroiff. „Es ist an der Zeit, Betreuungsangebote außerhalb der Schulen und Kindertagesstätten wieder zu öffnen mit vorsichtigen Schutzkonzepten.“Zudem fordert er eine bessere Einbindung der jungen Menschen. „Ein Kinder- und Jugendrat auf Bundesebene, bei dem Kinder und Jugendliche selbst ihren Bedarf äußern können, wäre eine wichtige Einrichtung.“
Die Bundesregierung will ein „Anschlusspaket“zur Unterstützung junger Menschen auf den Weg bringen; eine Kabinettsbefassung scheiterte an diesem Dienstag aber noch an Unstimmigkeiten zwischen Union und SPD. Bundesfamilienministerin
Franziska Giffey (SPD) verteidigt das Vorhaben. „Kinder und Jugendliche müssen seit mehr als einem Jahr auf eine Menge verzichten. Es fehlt der Alltag in Kitas und Schulen, der Kontakt zu Freunden, Lernstoff wird versäumt, digitale Medien bestimmen den Tag und es gibt weniger Freiräume. Dabei sind Bildungs-, aber auch Bindungslücken entstanden“, sagte sie unserer Redaktion. „Und die Beschränkungen haben zu seelischen und körperlichen Belastungen geführt. Wir müssen verhindern, dass diese Zeit der Pandemie lange nachwirkt und Ungleichheiten manifestiert werden.“
Alle jungen Menschen sollten ihre Bildungsziele erreichen und ihre „Persönlichkeit entwickeln können. Deshalb arbeiten wir, das Bundesfamilienministerium gemeinsam mit dem Bundesbildungsministerium, an unserem Aktionsprogramm ,Aufholen nach Corona' für Kinder, Jugendliche und ihre Familien: zum Nachholen und zum Aufatmen. Wir achten darauf, gerade auch die Kinder, Jugendlichen und Familien zu erreichen und zu unterstützen, die es besonders schwer haben.“Sprachförderung, Schulsozialarbeit und der vereinfachte Zugang zu Nachhilfeangeboten gehörten genauso dazu wie außerschulische Kinder- und Jugendarbeit und die Unterstützung der Familien.
Kinderarzt Fischbach hat jedoch Bedenken: „Die Bundesregierung droht mit dem Anschlusspaket die Chance zu verpassen, auch die psychische Entwicklung von Kindern außerhalb der Schulen zu fördern. Der Fokus liegt zu stark auf der Bekämpfung von Leistungsdefiziten“, findet er. Ein Kinderbonus von 100 Euro für einkommensschwache Familien ginge in die richtige Richtung, findet er. Den hatte die SPD für Herbst angekündigt. „Der politische Streit darum ist aber unwürdig, wenn zugleich Milliarden in einzelne Branchen gepumpt werden. Es ist eine Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen, dass es eine Testpflicht für sie, aber nicht für berufstätige Erwachsene gibt“, kritisiert Fischbach.
Druck auf die Bundesregierung kommt auch aus den Kommunen, die ein Corona-Aufholpaket begrüßen würden. „Wir hoffen sehr, dass das Bundeskabinett kommende Woche Grundzüge für ein solches Programm beschließt“, sagte Städtetagsvizepräsident Markus Lewe am Mittwoch bei einer Pressekonferenz. Das Programm in Höhe von zwei Milliarden Euro soll zur Hälfte Nachhilfe- und Förderprogramme für Schüler in den Ländern unterstützen, die zweite Milliarde ist für die Aufstockung verschiedener sozialer Programme vorgesehen.