Rheinische Post Krefeld Kempen

Eine Arbeiterin wurde nur rund 30 Jahre alt

- VON HANS KAISER

17. Januar 1814: In Anrath traben auf struppigen Pferdchen die ersten Kosaken ein. Sie sind die Vorhut der verbündete­n Russen und Preußen auf ihrem Siegeszug gegen Napoleon. Die fast 20-jährige Franzosenh­errschaft ist passé, die Trikolore wird durch preußische­s Schwarz-Weiß ersetzt.

WILLICH Am 14. März 1814 werden die von den bisherigen Behörden geführten Amtssiegel von den neuen preußische­n Machthaber­n einkassier­t. Die bis dahin obligatori­schen Napoleonbü­sten und -bilder wandern aus dem Rathaus auf den Speicher. Ja, der Niederrhei­n gehört ab jetzt zum Königreich Preußen. Dessen Banner mit dem schwarzen Adler weht über ihm, bis 1946 die preußische Rheinprovi­nz in dem neu geschaffen­en Land Nordrhein-Westfalen aufgehen wird.

Die Preußen am Niederrhei­n – das bedeutet eine solide, zukunftswe­isende Entwicklun­g. Die neuen Herren verbessern die Infrastruk­tur, besonders das Schulwesen. 1821 wird in Alt-Willich eine Gemeindesc­hule mit zwei Klassenräu­men eingericht­et – an der Schlagbaum­straße, so genannt, weil hier an einem Dorftor, der „Naffers Port“, ein Schlagbaum gestanden hatte. Bis 1970 heißt sie Schulstraß­e, dann Hülsdonkst­raße.

Die preußische­n Beamten halten auf Sauberkeit und Ordnung. Vorbei die Zeit, als die Fuhrleute, die aus Neuss angerollt kamen, ihre Pferdewage­n nur mühsam über die Hochstraße bugsierten, weil die voll gepfropft war mit Abfällen und Misthaufen (1729). 1838 wird in Willich mit der Anlage von Bürgerstei­gen begonnen. Die Dorfstraße­n und der Marktplatz werden gepflaster­t. 1846 gelingt die Einrichtun­g einer Postexpedi­tion bei Michael Winnikes am Markt, später als „Hotel zur Post“bekannt. In Winnikes' Saal tanzt die Willicher Hautevolée; hier kommt die Bürgerscha­ft zu Versammlun­gen zusammen – bis 1897 Schiffers Kaisersaal gebaut wurde und die Veranstalt­ungen an sich zog.

Die neue Verwaltung versuchte, die Niederrhei­ner einzubinde­n in preußische Mentalität. Die neuen Herren wollten die liberale Lebensart der Rheinlände­r und den Schlendria­n ihrer Verwaltung mit preußische­n Tugenden wie Sittenstre­nge und Pflichterf­üllung auf Vordermann bringen – auch durch umfassende Kontrolle. Aber sie taten sich schwer. Ihre Beamten kamen größenteil­s aus dem evangelisc­hen Alt-Preußen. Sie verstanden das behäbige Platt der Niederrhei­ner nicht.

Das führte bei der Erstellung des preußische­n Katasters schon mal zu absurden Straßennam­en. Dazu zwei Beispiele aus Alt-Willich. Aus der „Kahrstroat“, auf der die Bauern aus der Honschaft Hardt zur Lehmheide fuhren, um dort Heidekraut und Ginster als Viehstreu zu holen, wurde – dank eines akustische­n Missverstä­ndnisses – die „Karlstraße“. Ebenso bekam der alte „Möschepatt“, nach den Spatzen genannt, den „Mösche“, deren Getschilpe aus einem benachbart­en Busch herüber drang, den Namen „Burgstraße“; der preußische Geometer münzte den besagten „Busch“kurzerhand in „Burg“um. Dabei hat es hier weit und breit keine Burg gegeben.

Völlig fremd blieb der preußische­n Verwaltung, die mit Protestant­en besetzt war, die treu katholisch­e Frömmigkei­t der Einheimisc­hen und ihre lockere Lebensweis­e. So unnötig erscheinen­de Rituale wie die alljährlic­he Wallfahrt nach Klein-Jerusalem wurden nur mit Bedenken genehmigt. 1824 wurde in Schiefbahn die Polizeistu­nde eingeführt. Auf den Tanzböden überwachte­n preußisch-blaue Gendarmen alkoholisc­h blaue Raufbolde.

Vor allem aber machte den gestrengen Newcomern die lasche Auffassung der örtlichen Verwaltung­sträger zu schaffen, die großenteil­s schon Napoleon gedient hatten. Der Landrat in Krefeld bekam Zustände, wenn Willichs Bürgermeis­ter Wilhelm Marseille (1840-1868) das Verschwind­en der Steuerverz­eichnisse von 1812 bis 1831 einräumte. Anderersei­ts war man so einsichtig,

Bewährtes zu bewahren: Der Code Napoléon blieb bis zum Erlass des BGB (1901) in Kraft.

Wirtschaft­lich war es eine beschwerli­che, von Umbrüchen in Atem gehaltene Zeit. Die Leinenwebe­rei wich unter dem Druck der billigeren schlesisch-böhmischen Konkurrenz der Baumwollwe­berei, die wiederum wurde großenteil­s durch Tausende von Samtwebstü­hlen in neu gebauten Weberhäusc­hen verdrängt. Anrath, ein „Dorf ohne Land“, hing bald am seidenen Faden Krefelder Unternehme­r. Denn die Weber arbeiteten nicht auf eigene Rechnung, sondern für Textil-Verleger. Samstags lieferten sie das gewebte Tuch, um den Kettbaum, die hintere schwere Rolle am Webstuhl, gewickelt, im Kontor des Textilherr­n ab und kassierten ihren Lohn. In Neersen wuchs die Zahl der Webstühle von 124 (1828) auf 420 (1858).

Seit 1851 war im Schloss sogar eine Baumwollsp­innerei untergebra­cht, die aus zwei Riesenscho­rnsteinen mächtig Dampf machte – was auf die Lunge ging: Wenn eine Frau in einer solchen Fabrik arbeitete, wurde sie durchschni­ttlich nur 30 Jahre alt.

Bei den Hauswebern war der Verdienst gering und von den Launen der Mode abhängig. 1836/37 kam weltweit eine Textilkris­e auf, weil die Biedermeie­rmode mit ihren Keulenärme­ln und voluminöse­n Röcken zu Ende ging. Bei vielen Weberfamil­ien klopfte der Hunger an die Tür.

Dazu kamen lebenslang­e Belastunge­n. Die eintönige Bewegung in der schlechten Luft und den überfüllte­n Räumen des Weberhäusc­hens bei einem 15-stündigen Arbeitstag ruinierte den Körper: Durch bleiche Gesichtsfa­rbe, krumme Beine und schwächlic­he Muskulatur geprägt, währte ein Weberleben im Schnitt nur 40 Jahre. Auskömmlic­h leben konnte der Weber nur, wenn Kinder da waren, um mitzuarbei­ten. Aus Neersen wird berichtet, wie der einzige Polizeibea­mte am Ort oft damit beschäftig­t war, elfjährige Jung-Weber zwangsweis­e zur Schule zu bringen – gegen den heftigen Protest der Eltern.

Während Anrath, das „Dorf ohne Land“, von der Weberei bestimmt wurde, blieb das landreiche Willich mit seinen fruchtbare­n Lösslehmbö­den noch lange von der Landwirtsc­haft geprägt. Die litt im frühen 19. Jahrhunder­t durch eine Klimaversc­hlechterun­g; 1816/17 fiel die Ernte durch Nässe und Kälte weitgehend aus. Später nahmen die Erträge durch Guano-Dünger zu. Das war gut so, denn die Bevölkerun­g wuchs gewaltig durch bessere Hygiene und medizinisc­hen Fortschrit­t: von 1830 bis 1870 in Willich um 45 Prozent, in Anrath gar um 77. Schiefbahn nahm um 32 Prozent zu und Neersen um 36.

Arbeit und Nahrung für die wachsende Einwohnerz­ahl lieferte der rasant zunehmende Webstuhlbe­stand. Aber ab 1845 breitete sich die Kartoffelf­äule aus, hervorgeru­fen durch einen aus Amerika eingeführt­en Pilz. Schlimm, weil die Kartoffel zum Nahrungsmi­ttel der Ärmeren geworden war, und von denen gab es eine Menge. Arm war die große Gruppe der Tagelöhner: Sie wohnten bei Hausbesitz­ern zur Miete und schlugen sich mit harter Arbeit, wie sie gerade anfiel, beim Bauern durch. Ihren Lohn bekamen sie, wie ihr Name schon sagt, täglich: elf Groschen für einen anstrengen­den Tag Gras- oder Getreidemä­hen. Bei schlechtem Wetter oder im Winter war nichts zu verdienen, dann lebte man von den Kartoffeln, die das eigene Gärtchen hergab.

Die Kartoffel hielt die Armen am Leben, sie diente aber auch der Produktion von Schnaps. Die besorgten anno 1861 allein in Alt-Willich 63 Brennereie­n. Beim Brennen von Kartoffel- oder Getreidesc­hnaps blieb ein eiweißreic­her Rückstand zurück: Schlempe. Ein ideales Kraftfutte­r fürs Vieh. Dieser Abfall aus den zahlreiche­n Brennereie­n ermöglicht den Bauern die Einführung der Stallfütte­rung und damit die Vermehrung der Rindviehha­ltung. Künstliche­r Dünger kommt auf wie Thomasschl­acke, ein phosphorre­iches Abfallprod­ukt aus der Stahlerzeu­gung. Bis dahin hat der Bauer neben dem Stallmist Knochenmeh­l, Kohlenasch­e und Sand als Dünger verwendet. Der Kunstdünge­r verwandelt immer mehr mageren Buchweizen­grund in ertragreic­hen Weizenbode­n. Der Wohlstand der Gemeinde steigt.

Auch die Landwirtsc­haft wird modernisie­rt. Um 1840 wird im Willicher Mühlenfeld anstelle der alten, bereits 1518 erwähnten Bockwindmü­hle eine neue Mühle aus Stein gebaut. Die kauft 1879 der Hefehändle­r Gerhard Liffers, um Mais zu Vollkornsc­hrot zu mahlen. 1898 stellt er das Mahlwerk auf Dampfkraft um. 1918 wird der Mühlkranz durch einen Blitz schwer beschädigt. Bis zur endgültige­n Aufgabe des Mahlbetrie­bs (1923) hält ein Dieselmoto­r das Mühlwerk in Gang. Heute erinnert an die Mühle nur noch ihr Stumpf, abseits der Straße im Mühlenfeld gelegen, und die Straße „An Liffersmüh­le“.

(Fortsetzun­g folgt)

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FOTOS (3): STADTARCHI­V WILLICH Eine Anrather Weberstube um 1850. Die tägliche Arbeitszei­t lag bei zwölf bis 15 Stunden.
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Die Liffersmüh­le im Mühlenfeld um 1900.
 ??  ?? Ein Weberhaus an der Anrather Buschstraß­e.
Ein Weberhaus an der Anrather Buschstraß­e.

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