Rheinische Post Krefeld Kempen
Theaterfassade wird zur Videoleinwand
Der Videokünstler Kai Fobbe macht die Theaterfassade zum Hingucker. Bei Vorstellungen von Becketts „Endspiel“ist eine Übertragung in Gebärdensprache zu sehen - auch vom Theaterplatz aus. Es ist eine Premiere. Weitere Videos an deutschen Opern- und Schauspielhäusern werden folgen.
P - R - A - L - I - N - E: Praline. Klar Nagg, der Typ aus der Mülltonne, will Naschwerk. Aber Hamm, sein Sohn, ist unerbittlich. Erst soll der Alte ihm zuhören. Doch durch Hamms Gedankenlabyrinth kann niemand folgen. Die Sätze bleiben unvollendet in der Luft hängen. „Endspiel“ist ein Meisterwerk des Absurden Theaters, in dem Samuel Beckett die Sinnlosigkeit der Suche nach Sinn auf die Spitze treibt. Lässt sich diese Dimension ohne gesprochene Worte darstellen? „Das geht“, sagt Kai Fobbe. Der Videokünstler hat mit drei Schülerinnen und zwei Schülern des Rheinisch Westfälischen Berufskollegs Essen, das Gehörlose und Schwersthörige auf den Schulabschluss und den Beruf vorbereitet, ein Stück aus dem „Endspiel“in Gebärden übersetzt - nicht eins zu eins buchstabiert oder mit festen Zeichen der Gebärdensprache, sondern mit kunstvollen Interpretationen. Er hat die gehörlosen Jugendlichen ermutigt, neue Wortschöpfungen zu finden. „Praline ist der einzige Begriff, der buchstabiert wird“, berichtet Fobbe.
Am Sonntag, 12. September, 18 Uhr, wird Matthias Gehrts Inszenierung des Endspiels im Theater wieder aufgenommen. Zeitgleich wird im oberen Glasfoyer die gestische Interpretation zu sehen sein auf einer großen Vorhang-Projektionsfläche. Zu verfolgen ist der Film nicht nur drinnen, sondern auch vom Theaterplatz aus. Eine Premiere. Fobbe hat bereits Aufträge für weitere Opern- und Schauspielhäuser in Deutschland. Das Budget von 50.000 Euro kommt aus Fördertöpfen für Projekte mit Gehörlosen.
Arbeit mit diesen jungen Menschen sind für den 1968 in Bochum geborenen Videoartisten Fobbe kein Neuland. Der Wahl-Wuppertaler hat bei Pina Bausch verfolgt, wie der Tanz neue Elemente aufnehmen kann, und mehrere Produktionen mit dem Wuppertaler Tanztheater realisiert. Tänzerisch will er sein „Endspiel“nicht nennen. Es sei ein freier Umgang mit Literatur und Sprache, dem Poetry Slam ähnlich
„Die Jugendlichen haben Spaß daran, vor der Kamera zu agieren. Sie können sich gut ausdrücken, denn das ist die Art wie sie übers Mobiltelefon miteinander kommunizieren. Sie wissen genau, wie sie wirken und was sie wollen. Und das haben sie der Kamera gegeben.“
Es sind keine eckigen, hakligen Gesten, die Nicht-Gebärdensprachlern unzugänglich sind. Ela Beysun, Kateryna Totska, Kevin Ehlen, Leona-Marie Koppe und Tobias Holle haben den Flow der Generation Hip Hop. Sie erfassen den Rhythmus des Textes und bringen ihn auf die Großleinwand. Was so locker und frisch aussieht, ist gründlich erarbeitet worden. „Man kann gehörlosen Menschen nicht einfach einen Text vorlegen. Lesen ist für sie eine Fremdsprache“, erklärt Fobbe. Weil Wörter und Gesten nicht immer deckungsgleich sind, muss der Text nicht nur übersetzt, sondern interpretiert werden. Eine Gebärdendolmetscherin
hat dabei geholfen, die jungen Akteure haben neue Wortschöpfungen gefunden - wie beim Poetry Slam.
Beckett allerdings ist Artistik am Hochreck. Wer den Sinn sucht, hat nur Erfolg, wenn er einsieht, dass er ihn nicht finden wird. „Es wird von Zeile zu Zeile missverständlicher. Man muss herausfinden, wie es gemeint ist. Das war die größte Hürde“, sagt Fobbe.
Schauspieldirektor Matthias Gehrt hat das „Endspiel“unmittelbar vor dem Lockdown inszeniert. Die Absurditäten der Corona-Zeit haben dem Stück zusätzliche Bedeutungsebenrn gegeben, Vier trostlose Gestalten hocken in einem von aller Welt abgeschiedenen Verschlag. Der blinde, lahme Hamm schikaniert alle: den devoten Clov und seine Eltern Nagg und Nell, die in Mülltonnen dahin vegetieren - eine postaptokalyptische Notgemeinschaft, die nicht einmal
mehr zur Verzweiflung fähig ist. Hamms Monolog, der mit der Bitte um eine Praline beginnt und mit der düsteren Erkenntnis endet, dass es auf der Welt keine Pralinen mehr geben wird, ist eine Schlüsselszene des Stücks. In Endlos-Schleife wird das etwa sechsminütige Gebärdenspiel auf die Fassade gebannt.
Videoinstallationen im öffentlichen Raum sind seit 2003 ein Schwerpunkt in der Arbeit von Kai Fobbe. „Film und Bewegung im öffentlichen Raum werden meist als Werbung wahrgenommen. Doch hier wird der Blick angezogen, ohne dass es ein Werbebanner gibt. Das schafft Irritation“, sagt er. Als er dem Theater Krefeld und Mönchengladbach die Idee angetragen hat, war die Begeisterung gleich groß. „Wir haben uns auch schnell auf Beckett verständigt“, sagt er. Die Fördermittel für Projekte mit gehörlosen Jugendlichen freuen den Videokünstler. „Denn diese Menschen werden oft nicht wahrgenommen, weil sie eben sehr still sind.“An Theaterwänden werden sie unübersehbar.