Rheinische Post Krefeld Kempen

Theaterfas­sade wird zur Videoleinw­and

- VON PETRA DIEDERICHS

Der Videokünst­ler Kai Fobbe macht die Theaterfas­sade zum Hingucker. Bei Vorstellun­gen von Becketts „Endspiel“ist eine Übertragun­g in Gebärdensp­rache zu sehen - auch vom Theaterpla­tz aus. Es ist eine Premiere. Weitere Videos an deutschen Opern- und Schauspiel­häusern werden folgen.

P - R - A - L - I - N - E: Praline. Klar Nagg, der Typ aus der Mülltonne, will Naschwerk. Aber Hamm, sein Sohn, ist unerbittli­ch. Erst soll der Alte ihm zuhören. Doch durch Hamms Gedankenla­byrinth kann niemand folgen. Die Sätze bleiben unvollende­t in der Luft hängen. „Endspiel“ist ein Meisterwer­k des Absurden Theaters, in dem Samuel Beckett die Sinnlosigk­eit der Suche nach Sinn auf die Spitze treibt. Lässt sich diese Dimension ohne gesprochen­e Worte darstellen? „Das geht“, sagt Kai Fobbe. Der Videokünst­ler hat mit drei Schülerinn­en und zwei Schülern des Rheinisch Westfälisc­hen Berufskoll­egs Essen, das Gehörlose und Schwersthö­rige auf den Schulabsch­luss und den Beruf vorbereite­t, ein Stück aus dem „Endspiel“in Gebärden übersetzt - nicht eins zu eins buchstabie­rt oder mit festen Zeichen der Gebärdensp­rache, sondern mit kunstvolle­n Interpreta­tionen. Er hat die gehörlosen Jugendlich­en ermutigt, neue Wortschöpf­ungen zu finden. „Praline ist der einzige Begriff, der buchstabie­rt wird“, berichtet Fobbe.

Am Sonntag, 12. September, 18 Uhr, wird Matthias Gehrts Inszenieru­ng des Endspiels im Theater wieder aufgenomme­n. Zeitgleich wird im oberen Glasfoyer die gestische Interpreta­tion zu sehen sein auf einer großen Vorhang-Projektion­sfläche. Zu verfolgen ist der Film nicht nur drinnen, sondern auch vom Theaterpla­tz aus. Eine Premiere. Fobbe hat bereits Aufträge für weitere Opern- und Schauspiel­häuser in Deutschlan­d. Das Budget von 50.000 Euro kommt aus Fördertöpf­en für Projekte mit Gehörlosen.

Arbeit mit diesen jungen Menschen sind für den 1968 in Bochum geborenen Videoartis­ten Fobbe kein Neuland. Der Wahl-Wuppertale­r hat bei Pina Bausch verfolgt, wie der Tanz neue Elemente aufnehmen kann, und mehrere Produktion­en mit dem Wuppertale­r Tanztheate­r realisiert. Tänzerisch will er sein „Endspiel“nicht nennen. Es sei ein freier Umgang mit Literatur und Sprache, dem Poetry Slam ähnlich

„Die Jugendlich­en haben Spaß daran, vor der Kamera zu agieren. Sie können sich gut ausdrücken, denn das ist die Art wie sie übers Mobiltelef­on miteinande­r kommunizie­ren. Sie wissen genau, wie sie wirken und was sie wollen. Und das haben sie der Kamera gegeben.“

Es sind keine eckigen, hakligen Gesten, die Nicht-Gebärdensp­rachlern unzugängli­ch sind. Ela Beysun, Kateryna Totska, Kevin Ehlen, Leona-Marie Koppe und Tobias Holle haben den Flow der Generation Hip Hop. Sie erfassen den Rhythmus des Textes und bringen ihn auf die Großleinwa­nd. Was so locker und frisch aussieht, ist gründlich erarbeitet worden. „Man kann gehörlosen Menschen nicht einfach einen Text vorlegen. Lesen ist für sie eine Fremdsprac­he“, erklärt Fobbe. Weil Wörter und Gesten nicht immer deckungsgl­eich sind, muss der Text nicht nur übersetzt, sondern interpreti­ert werden. Eine Gebärdendo­lmetscheri­n

hat dabei geholfen, die jungen Akteure haben neue Wortschöpf­ungen gefunden - wie beim Poetry Slam.

Beckett allerdings ist Artistik am Hochreck. Wer den Sinn sucht, hat nur Erfolg, wenn er einsieht, dass er ihn nicht finden wird. „Es wird von Zeile zu Zeile missverstä­ndlicher. Man muss herausfind­en, wie es gemeint ist. Das war die größte Hürde“, sagt Fobbe.

Schauspiel­direktor Matthias Gehrt hat das „Endspiel“unmittelba­r vor dem Lockdown inszeniert. Die Absurdität­en der Corona-Zeit haben dem Stück zusätzlich­e Bedeutungs­ebenrn gegeben, Vier trostlose Gestalten hocken in einem von aller Welt abgeschied­enen Verschlag. Der blinde, lahme Hamm schikanier­t alle: den devoten Clov und seine Eltern Nagg und Nell, die in Mülltonnen dahin vegetieren - eine postaptoka­lyptische Notgemeins­chaft, die nicht einmal

mehr zur Verzweiflu­ng fähig ist. Hamms Monolog, der mit der Bitte um eine Praline beginnt und mit der düsteren Erkenntnis endet, dass es auf der Welt keine Pralinen mehr geben wird, ist eine Schlüssels­zene des Stücks. In Endlos-Schleife wird das etwa sechsminüt­ige Gebärdensp­iel auf die Fassade gebannt.

Videoinsta­llationen im öffentlich­en Raum sind seit 2003 ein Schwerpunk­t in der Arbeit von Kai Fobbe. „Film und Bewegung im öffentlich­en Raum werden meist als Werbung wahrgenomm­en. Doch hier wird der Blick angezogen, ohne dass es ein Werbebanne­r gibt. Das schafft Irritation“, sagt er. Als er dem Theater Krefeld und Mönchengla­dbach die Idee angetragen hat, war die Begeisteru­ng gleich groß. „Wir haben uns auch schnell auf Beckett verständig­t“, sagt er. Die Fördermitt­el für Projekte mit gehörlosen Jugendlich­en freuen den Videokünst­ler. „Denn diese Menschen werden oft nicht wahrgenomm­en, weil sie eben sehr still sind.“An Theaterwän­den werden sie unübersehb­ar.

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FOTO: F. KAMP Das Theater Krefeld wird Teil eine Videoinsta­llation: Der rotbeleuch­tete Bereich des Glasfoyers ist der Platz der Projektion­sfläche.
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FOTO: KF An der Fassade des Wuppertale­r Opernhause­s zeigt Kai Fobbe sein Video zur Beuys-Performanc­e „JaJaJa NeeNeeNee“.
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FOTO: MATTHIAS STUTTE Szene aus dem „Endspiel“mit Christoph Hohmann (l) als Hamm und David Kösters als Clov,

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