Rheinische Post Krefeld Kempen
„Man muss mit den Taliban sprechen“
Rolf Tophoven, Experte für islamistischen Terror, spricht über 9/11 und die Lage in Afghanistan.
GREFRATH Seit und vor allem nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Militärgeschichte interessierte sich Rolf Tophoven, Terrorismusforscher aus Grefrath, für die Konflikte in Nahost. Schwerpunkt damals war die Abwehr der israelischen Armee gegen den palästinensischen Terror. Heute ist seine Expertise immer noch gefragt, sowohl im Fernsehen als auch im Rundfunk. Zu unserem Gespräch führt uns Rolf Tophoven in sein Arbeitszimmer, ein Zimmer, das einen Blick auf ein Leben voller Erinnerungen und vor allem fundamentales Wissen gestattet: An den Wänden unzählige Fotos und Urkunden, in den Regalen Bücher, Bücher, Bücher. Der Schreibtisch ist beladen mit Schriften, Notizen und: Büchern. Ein großes Fenster spendiert reichlich Licht auf Tophovens Arbeitsplatz. Gerade, als wir die ersten Worte gewechselt haben, meldet sich der Hessische Rundfunk. Eine Analyse der derzeitigen Lage in Afghanistan wird benötigt. Ruhig und präzise formuliert Rolf Tophoven seine Antworten: „In Afghanistan werden die Taliban jetzt die entscheidende Rolle spielen, der IS ist aus Sicht der Taliban ein Störfaktor. Sie sehen den IS als islamistische Konkurrenz, als Emporkömmling.“
Herr Tophoven, woher nehmen Sie all dies Wissen?
ROLF TOPHOVEN Zunächst gehört tiefes Interesse für das Thema dazu. Dann muss man den notwendigen Aufwand auch aufbringen wollen. Wenn man erst einmal in den Medien präsent ist, sind auch Kontakte unter anderem zu den Sicherheitsbehörden möglich. Man knüpft Kontakte, die man aus Gründen des Quellenschutzes nicht immer nennen kann. Mein Vorteil war, dass ich mich sehr früh und sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt habe, lange vor der Digitalisierung. Von Beginn an studierte ich die Sicherheitsszene und die Berichte in den Medien und mache das auch heute noch. Durch immer zahlreicher werdende Kontakte häuft sich neben anderem in Hintergrundgesprächen immer mehr Wissen an. Im Laufe der Jahre entsteht so ein breites Netzwerk. Zum Thema Terrorismus wurde ich zu Konferenzen zweimal nach Moskau eingeladen, in die Türkei bei der Nato, zweimal nach Islamabad in Pakistan und auch zweimal mit der Bundeswehr nach Afghanistan. Grundsätzlich ist Wissen ein ständiges Bemühen des Verstehens.
Dazu gehören doch auch Reisen in die Länder in Nah- und Fernost. TOPHOVEN Ja, ich erinnere mich gut an Besuche bei der israelischen Armee, beispielsweise dort an Patrouillen bei Nacht. Auch Besuche im Iran gehörten dazu.
Sie waren ein Gründungsmitglied des Bonner Instituts für Terrorismusforschung.
TOPHOVEN Das war 1986. Wir waren nicht an die Universität gebunden, sondern wurden von der Wirtschaft unterstützt. Jeden Monat haben wir einen Print-Newsletter mit dem Titel „Terrorismus“herausgegeben. Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz haben unseren Newsletter abonniert. Sieben Jahre dauerte die Arbeit an diesem Institut. Nach der Wende 1990 stuften viele den Terrorismus nicht mehr als vorrangig ein. Aber es wurde schlimmer denn je.
2003 haben wir das Institut in Essen als Iftus, als Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik, heute Institut für Krisenprävention, wieder neu gegründet – übrigens genau am 11. September, zusammen mit Kai Hirschmann, Lehrbeauftragter an der Universität in Bonn. Seit dieser Zeit arbeiten wir bis heute am Institut, das privatwirtschaftlich an eine Sicherheitsfirma angebunden ist.
Aber Sie hatten sich einen Namen bei Kennern der Sicherheitsszene
und in den Medien gemacht, kann man das so ausdrücken?
TOPHOVEN Ja. Ich wurde für Fernseh-, Rundfunk- und Zeitungsinterviews angefragt. Zum Anschlag am 11. September 2001 auf das World Trade Center war ich bei den Sondersendungen bei ARD, ZDF und Phoenix, bei RTL, SAT1 und Pro7 und den dritten Programmen als Interviewpartner gefragt.
Konnten Sie in den Gesprächen konkrete Aussagen machen? TOPHOVEN Die Frage nach den Verantwortlichen für den Anschlag war das Thema. Dabei gab es im Februar 1993 schon einen Angriff auf die Twin Towers. Bei einer heftigen Explosion in der Tiefgarage wurden sechs Menschen getötet, über 1000 verletzt. Damals hatte ich nach Antworten gesucht: Wer war der Planer, wer hat alles entwickelt? Der Anschlag kann Islamisten um den Hassprediger Omar Abdel-Rahman zugeordnet werden. Mir war außerdem bekannt, dass Osama bin Laden vor 2001 diverse Camps in Afghanistan führte und dort bis zu 600 Leute professionell ausbilden ließ. Ich nannte Osama bin Laden als Impulsgeber.
Wie gehen Sie selbst mit all diesen schrecklichen Informationen um, was macht das mit Ihnen? TOPHOVEN Wenn Sie diese Frage nicht gestellt hätten, wäre ich wahrscheinlich glücklicher gewesen. Aber wenn man all diese Nachrichten an sich herankommen lässt, dann kann man keine nüchterne Analyse leisten. Meine ganze Arbeit wird gestützt von meiner Ehefrau.
Münster. Journalistische Beiträge für Zeitungen und Militärzeitschriften und sein erstes Buch über die GSG 9 legten neben anderem das Fundament für späteres Expertenwissen.
Beruf Hauptberuflich war Rolf Tophoven Studiendirektor am HugoJunkers-Gymnasium in Mönchengladbach-Rheydt.
Was bewegend war: Als ich nach einer Afghanistan-Reise mit der Bundeswehr zurückkam, standen am Flughafen Köln Dutzende Frauen, einige mit Kindern auf dem Arm. „Da ist Papa“, rief ein Kind, dessen Vater sechs, sieben Monate in Afghanistan vor Ort war. Eine andere Frau mit einer Rose in der Hand nahm ihren Freund in die Arme und sagte: „Da bist du ja, mein Schatz.“Das sind natürlich sehr starke Emotionen. Vor Ort in Afghanistan verdrängt man dagegen. Ich schließe mich da nicht aus.
Was will der islamische Terrorismus mit seinen Anschlägen, mit seinen Gräueltaten eigentlich erreichen?
TOPHOVEN In der Köpfen der radikalen Muslime herrscht die Idee des heiligen Krieges. Die Menschen pervertieren den Islam, so wie sie es möchten. Allerdings lebt die überwiegende Mehrzahl der Muslime in Deutschland absolut friedlich. Die Propaganda der Islamisten ist dagegen an die Frage gekoppelt: Bist du für uns oder gegen uns? Wenn du gegen uns bist, bist du ungläubig und musst dich zum Islam bekehren lassen. Unter Umständen droht der Tod.
Um Menschen zum Islam zu bekehren, deshalb fährt jemand mit einem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt?
TOPHOVEN Die jüngste Vorgehensweise der Islamisten zeigt immer stärker, dass auch Gebrauchsgegenstände, wie Autos und Messer zum Beispiel, Tat- und Wirkmittel werden, denn diese sind leicht zu beschaffen.
Ist es zu naiv zu wünschen, dass wir uns trotz unterschiedlichen Glaubens einfach in Ruhe lassen könnten?
TOPHOVEN Das ist naiv, denn die Welt ist nicht so. Wenn ein Staat wie der Iran sich Atomwaffen besorgen will oder selbst Uran anreichert, dann versteht man die Sorgen Israels. Da wächst der Wunsch nach Selbstverteidigung. Der Streit insgesamt beruht auch auf der Auslegung des Korans. Es gibt Appelle vieler Muslime, den Koran nicht zu missbrauchen. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Die radikalen Islamisten haben ein völlig anderes Verständnis, und sie glauben, dass die liberale Auslegung als Sünde bekämpft werden muss.
Wie beurteilen Sie die jetzige Lage in Afghanistan?
TOPHOVEN Wenn die USA als Weltmacht mit entführten Flugzeugen angegriffen und das World Trade Center zerstört wird, dann muss reagiert werden. Der Bündnisfall der Nato wurde danach erstmals ausgerufen. Der Angriff der Nato-Truppen zerschlug das Regime der Taliban und die Stützpunkte der Al Kaida. Dann hieß es Nationbuilding, Aufbau in Afghanistan, Stabilität. Das war vom Ansatz her falsch und hat letztendlich auch zu lange gedauert.
Was beispielsweise ging schief? TOPHOVEN In Afghanistan waren vier deutsche Ministerien involviert: Verteidigung, Wirtschaft, Außen und Innen. Alle hatten ihre Projekte, doch ohne Koordination. Was die Bundeswehr betrifft, so haben die Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag erfüllt und einen guten Job gemacht. Die Bundeswehr ist nicht gescheitert – gescheitert ist die Politik. Man kann nicht einem Land wie Afghanistan mit einer jahrhundertelangen archaischen Geschichte einfach Demokratie, Einkaufsmärkte, Fast-Food, das Prinzip „Cola“und Stabilität überstülpen. Rechte und Bildung für Frauen und Kinder sind gute Gründe für Engagement. Aber wir können dem Mann vor Ort nicht vorschreiben, ob er seine Frau alleine über die Straße gehen lässt oder aus religiösen Gründen eben nicht. Wir wollen uns unseren christlichen Glauben oder andere Lebensformen auch nicht vorschreiben lassen. Sozialpolitische Veränderung in Afghanistan würden einen jahrelangen Prozess bedingen. Unsere westliche Kultur ist eben nicht einfach so in ein anderes Land zu implantieren.
Und jetzt?
TOPHOVEN Die Taliban heute sind nicht mehr die Taliban wie vor 20 Jahren. Heute muss man mit ihnen sprechen – wenn man es kann. Die Diplomatie abzubrechen, das halte ich nicht für gut. Russland hat die Botschaft offengelassen, China hat die Anerkennung der Taliban signalisiert. Das Ansehen der USA als westliche Weltmacht hat gelitten. Entscheidend wird die Frage sein, ob dort wieder ein Biotop des Terrorismus entsteht. Die Taliban haben den Anschlag auf die Twin Towers nicht ausgeübt, es war Al Kaida. Das wird oft vergessen. Wenn es weitere Anschläge geben sollte, dann werden sie von radikalen Islamisten verübt, inspiriert jedoch durch den Sieg der Taliban über den Westen. Es bleibt sehr komplex.
Eine letzte Anmerkung, Herr Tophoven: Sie haben 2020 zusammen mit H.-Daniel Holz ein Buch geschrieben.
TOPHOVEN Das stimmt, und zwar mit dem Titel „Der ,Islamische Staat': Geschlagen – aber nicht besiegt“. Der Band erschien in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Bedrohung durch den islamistischen Terror, die Sicherheit in Deutschland und in Europa und die Terrorbekämpfung und Aspekte der Geopolitik sind Kernpunkte der Arbeit. Außerdem möchte ich demnächst die ökumenische Gesprächsrunde in Grefrath wieder fortsetzen, die 2014 ins Leben gerufen wurde. Ein Afghanistan-Abend ist geplant.