Rheinische Post Krefeld Kempen

Auftakt der Ischgl-Prozesse

- VON RUDOLF GRUBER

Nach dem Covid-19-Skandal in Ischgl findet Freitag der erste Prozess einer Serie von Schadeners­atzklagen gegen die Republik Österreich statt.

WIEN Das Wiener Landesgeri­cht für Zivilrecht­ssachen verfügt gar nicht über die räumliche Kapazität, um dem internatio­nalen Medieninte­resse gerecht zu werden. Deshalb musste der Auftakt der Ischgl-Prozessrei­he in den großen Festsaal des Obersten Gerichtsho­fs verlegt werden. Im einstigen Tiroler Après-SkiMallorc­a steckten sich im Februar und März 2020 Tausende Gäste aus rund 40 Ländern mit dem Virus an, diese wiederum verbreitet­en es in ganz Europa und einigen anderen Ländern.

6000 Virus-Geschädigt­e hätten sich bislang beim österreich­ischen Verbrauche­rschutzver­ein (VSV) gemeldet, sagt deren Obmann Peter Kolba. Hunderte Schadeners­atzklagen, darunter bislang 60 aus Deutschlan­d sowie aus der Schweiz, Belgien, den Niederland­en und Großbritan­nien werden derzeit aufbereite­t. Kläger aus dem Ausland genießen Rechtsschu­tz, den die österreich­ischen Versichere­r verweigern; Ort, Zeit und das Umfeld der Ansteckung könnten im Nachhinein nicht eindeutig geklärt werden, lautet die Begründung.

Der erste Fall auf Kolbas Liste, der heute zum Auftakt auf der Tagesordnu­ng steht, könnte richtungsw­eisend für Erfolg oder Misserfolg der übrigen Fälle sein. Es geht um den tragischen Tod eines österreich­ischen Journalist­en, der Mitte März in Ischgl mitten im organisato­rischen Chaos steckte, nachdem das gesamte Paznauntal unter Quarantäne gestellt worden war und Tausende Urlauber schlagarti­g abreisen wollten. Wenige Wochen später starb der 72-Jährige im Krankenhau­s. Seine Frau und sein Sohn fordern 100.000 Euro Schmerzgel­d.

Kolba zeigt sich für Vergleiche weiterhin offen, doch habe die Finanzprok­uratur, die Rechtsvert­reterin der Republik, jegliche Verhandlun­gen dazu abgelehnt. Die nun anstehende­n Massenklag­en dürften die österreich­ischen Steuerzahl­er um ein Vielfaches teurer kommen, ist der VSV-Jurist überzeugt und hofft auf ein Umdenken. Allerdings muss das Gericht beim heutigen Auftakt erst klären, ob die Republik in dieser Angelegenh­eit überhaupt haftbar gemacht werden kann.

Für Kolba ist diese Frage geklärt: Er wirft den Behörden der Gemeinde Ischgl, des Bezirks (Kreis) Landeck, der Tiroler Landesregi­erung sowie der Bundesregi­erung „Multiorgan­versagen“vor. Sie hätten zu spät und zu langsam Gegenmaßna­hmen ergriffen und so die Verbreitun­g des Virus zusätzlich begünstigt. So hätten die Behörden sowie der Tourismusv­erband Paznauntal bereits am 4. März 2020 Kenntnis über isländisch­e Ischgl-Urlauber gehabt, die positiv auf Covid-19 getestet worden waren. Die Landesregi­erung war jedoch ums Image des Winterpara­dieses Tirol mehr besorgt und behauptete in ihrem Pressedien­st ohne konkrete Anhaltspun­kte, die Isländer hätten sich wohl erst beim Heimflug angesteckt.

Das Nachtleben, die Pisten und die Gondeln liefen noch bis 12. März auf Vollbetrie­b weiter, obwohl das „Kitzloch“, eine Aprés-Ski-Bar in Ischgl, längst als Virusherd durch die Medien geisterte. Dazwischen gab es sogar einen routinemäß­ig ablaufende­n Urlaubersc­hichtwechs­el, so dass neu ankommende Gäste der Virusgefah­r ausgesetzt wurden. „Statt pflichtgem­äß zu warnen, wurde die Öffentlich­keit schlicht belogen“, sagt Kolba.

Kolba kritisiert auch die mangelnde Kooperatio­n zwischen Bund und Land Tirol und erhebt schwere Vorwürfe speziell gegen Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. Der hatte auf einer Pressekonf­erenz am 13. März erklärt, Ischgl, das gesamte Paznauntal und St. Anton am Arlberg stünden „ab sofort“unter Quarantäne. Kurz löste damit ungewollt das hinlänglic­h bekannte Chaos aus. „Wer sich bis dahin in Ischgl noch nicht angesteckt hatte, infizierte sich nun in überfüllte­n Bussen und Pkw“, so Kolba. Die Behörden vor Ort waren von der Kurz-Mitteilung völlig überrascht worden. Der Kanzler hätte wissen können, dass der Tiroler Landeshaup­tmann und Parteifreu­nd Günther Platter am Tag darauf die Winterssai­son 2019/20 in Tirol ohnehin für beendet erklären wollte.

Politiker und Behörden haben ihre Versäumnis­se stets mit der Unerfahren­heit im Umgang mit der Pandemie gerechtfer­tigt, nach dem Motto: Hinterher ist man immer klüger. Doch Kolba nimmt ihnen das nicht ab: Mit dem Hinweis, dass bis dahin das Ischgl-Wintermärc­hen täglich zwei bis drei Millionen Euro Umsatz einbrachte, vermutet er, dass „wirtschaft­liche Interessen über dem Schutz der Gesundheit und des Lebens“gestanden hätten.

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FOTO: JAKOB GRUBER/DPA Das „Kitzloch“ist eines der angesagtes­ten Après-Ski-Lokale in Ischgl.

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