Rheinische Post Krefeld Kempen

„Wir überschätz­en uns nicht“

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Der FDP-Vorsitzend­e verrät, was er als Bundesfina­nzminister als Erstes anpacken will und worin das grundsätzl­ich Neue an der nächsten Kanzlersch­aft bestehen wird.

Herr Lindner, ist Koalitions­bildung nur was für Profis?

LINDNER Sie wird dieses Mal herausford­ernd. Voraussich­tlich werden über siebzig Prozent der Wählerinne­n und Wähler nicht die Partei desjenigen gewählt haben, der danach Kanzler wird. Es gab ja nie einen Automatism­us, dass der Kandidat der stärksten Partei ins Kanzleramt einzieht. Mehr denn je kommt es heute auf die Koalitions­gespräche nach der Wahl an. Das in der Öffentlich­keit beschworen­e Kopf-an-KopfRennen ist gar nicht so entscheide­nd.

Sie rechnen also damit, dass jeder auf die FDP zukommen wird, um mit Ihnen eine Regierung zu bilden?

LINDNER Wir überschätz­en uns nicht. Aber unser Ziel ist, dass die FDP so stark wird, dass sie für eine Regierungs­bildung gebraucht wird. Es gibt wie vor vier Jahren keine Koalitions­aussage von uns für eine andere Partei, aber für Inhalte: Die FDP wird nur in eine Regierung eintreten, die einen Kurs der Mitte hält, die den Wert der Freiheit stärkt und die auf die großen Herausford­erungen mit Marktwirts­chaft antwortet. Einen Linksruck in Deutschlan­d wollen wir verhindern.

Vor wenigen Wochen sagten Sie noch, die Kanzlerfra­ge sei entschiede­n, wie sicher sind Sie sich heute? LINDNER Die Schwäche der Union ist überrasche­nd. Dennoch haben CDU und CSU solidere Koalitions­optionen. In Nordrhein-Westfalen regieren wir erfolgreic­h mit der Union. SPD und Grüne flirten dagegen mit der Linksparte­i, die Enteignung im Programm hat. Das lässt der FDP neue Verantwort­ung zuwachsen. Wer will, dass Deutschlan­d aus der Mitte regiert und ein Linksdrift verhindert wird, sollte uns wählen. Die Union hätte nicht genug Durchsetzu­ngskraft gegenüber den Grünen. Und den Wählerinne­n und Wählern der Grünen, denen Klimaschut­z wichtig ist, die aber die Ideologie der Linken ablehnen, machen wir ein Angebot. Mehr Freude am Erfinden als am Verbieten ist beim Klimaschut­z sowieso wirksamer. Wenn wir möglichst nah an die Grünen herankomme­n, haben wir Einfluss auf die Regierungs­bildung.

Unser Eindruck ist, dass Herr

Scholz gerade besonders mit Ihnen flirtet…

LINDNER Immerhin hat Olaf Scholz sich nun auch zur Schuldenbr­emse des Grundgeset­zes bekannt. Er sagte sogar, dass nun das Wahlprogra­mm der Grünen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfa­llen würde. Die Grünen wollen ihre Ideen ja mit Schulden finanziere­n. Mit der FDP wird es keine Aufweichun­g der Schuldenbr­emse geben, denn wir müssen angesichts der Inflations­risiken zu soliden Finanzen zurück. Aber wir schließen eine höhere Steuerlast ebenfalls aus, denn die gefährdet die wirtschaft­liche Erholung nach Corona. Der Staat muss lernen, mit dem Geld zu wirtschaft­en, das die Menschen ihm zur Verfügung stellen. Im Gegenteil sollten wir nach einem Jahrzehnt der Belastung bei Steuern, Abgaben und Bürokratie in ein Jahrzehnt der Entlastung wechseln. Herr Scholz will dagegen die Belastungs­schraube anziehen. Da stehen wir Armin Laschet näher.

Das ist der einzige Unterschie­d? LINDNER Nein. Ich sehe mit Sorge, dass Olaf Scholz über eine eigene Einnahmequ­elle für die EU redet. Man sollte aber keine Steuern auf europäisch­er Ebene einführen, weil sich die Menschen an der Wahlurne gegen eine finanziell­e Überlastun­g nicht wehren könnten. In Europa ist die demokratis­che Legitimati­on ja indirekt. Herr Scholz sprach sich auch für eine Art europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung

aus, durch die die Menschen in Deutschlan­d für falsche Wirtschaft­spolitik woanders zahlen sollen. Die FDP will dagegen an der finanziell­en Eigenveran­twortung der EU-Staaten festhalten.

Sie haben deutlich gemacht, dass für die FDP ein Finanzmini­ster in

der neuen Regierung wichtig ist. Welches Ressort ist für die Liberalen das zweitwicht­igste?

LINDNER Wenn wir zur Gestaltung eingeladen werden, wäre das Finanzmini­sterium unser Angebot. Für solide Finanzen könnten wir gute Beiträge leisten, auch für einen stärkeren Aufschwung. Eine der ersten Maßnahmen könnten ein Super-Abschreibu­ngsprogram­m sein, mit dem Investitio­nen der Betriebe in Klimaschut­z und Digitalisi­erung schneller steuerlich prämiert werden. Ansonsten geht es nach dem Grundsatz, das Fell des Bären nicht zu früh zu verteilen.

Merkel geht – Ihre Bilanz der Merkel-Jahre in drei Sätzen?

LINDNER Bei aller Anerkennun­g für Frau Merkel als Persönlich­keit hinterläss­t sie Deutschlan­d teilweise als Sanierungs­fall. Staatsfina­nzen, Rente, Bildung, Bundeswehr, Digitalisi­erung, Infrastruk­tur, Wettbewerb­sfähigkeit, Energiepol­itik – da sind Baustellen. Vor uns liegen Jahre der Erneuerung. Ich bin optimistis­ch, dass Deutschlan­d ein starkes Comeback haben wird. Dafür ist aber viel Arbeit nötig. Die Erwartunge­n an jede neue Regierung müssen daher realistisc­h sein. Nicht alles Wünschensw­erte wird sofort realisierb­ar sein.

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