Rheinische Post Krefeld Kempen
Renaissance des Stickens
Verblüffend: Junge Leute entdecken ein altes Kunsthandwerk. Am Berufskolleg Vera Beckers lernen Schüler sticken. Textilexperten begleiten sie dabei. Die Sticktechniken sind auch ethnologisch hoch interessant.
Schülerin Isabell fasst es zusammen: „Was meine Oma gemacht hat, kam mir immer so altmodisch vor. Aber jetzt sehen wir, es kann auch etwas Kreatives und Modernes sein.“Und sogar etwas über Kulturkreise verraten. Mit einem Workshop zu der traditionellen Kunst des Stickens sind das Berufskolleg Vera Beckers (BKVB) und das Deutsche Textilmuseum (DTM) erstmals eine Kooperation eingegangen. Möglich war die Projektwoche zu Verzierungstechniken durch die Förderung des Fachbereichs Migration und Integration, der schon mehrfach mit der bis vor kurzem benachbarten Schule zusammengearbeitet hat. Der Fachbereich ist kürzlich aus dem Stadthaus in die Hansastraße übergesiedelt.
In der Projektwoche wird Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe im zweiten Lehrjahr, es sind zwei Männer und 13 Frauen, das Sticken vermittelt. Sie werden am BKVB zur staatlich geprüften bekleidungstechnischen Assistentin (Assistent) ausgebildet und erwerben gleichzeitig die Fachhochschulreife. Vier von ihnen satteln sogar noch den Maßschneider drauf. In dieser Woche aber begeben sie sich auf andere Wege, denn „Sticken ist kein originärer Teil des Ausbildungsgangs“, so Schulleiter Stefan Bur. „Kleidung ist ein Teil der kulturellen Identität. Und hier sehen wir den Übergang zu handwerklicher Tätigkeit.“
Verena Uygun, Bildungsgangleiterin, ist begeistert von dem Projekt, dass wegen der Pandemie mehrfach verschoben werden musste: „Wir sind froh, dass es nun endlich soweit ist – dies ist eine sehr kreative Klasse.“Die Unterstufe sei neidisch, sagt Uygun und man spricht schon über eine Fortsetzung der DreierKooperation.
Die Schülerinnen und Schüler der
Mittelstufe machen sehr engagiert mit und begeben sich auch hier auf einen neuen Weg. Denn die Lehrerin des Workshops ist per Zoom zugeschaltet und leitet die Klasse aus der Ferne an. Am ersten Tag hat Jenny Joosten, Expertin für ethnographische Stickereien und ihre Herstellungstechniken,
eine Einführung in das Sticken gegeben. Im Klassenraum stehen die verschiedensten Materialien zur Verfügung: Garne und Nadeln, Pailletten und Perlen, mancherlei Stoffe und die hölzernen Stickrahmen. Sie haben schon viele Hände gefühlt: ‚Mädchenberufsschule` steht auf den Rändern.
Jede Schülerin und jeder Schüler – einer ist wegen Quarantäne auch per Zoom zugeschaltet – haben eine Tüte mit verschiedenen Stoffen bekommen und lernen zunächst sechs Stiche, die sie auf einem Baumwollgewebe üben. Im Laufe der Woche sollen es zehn werden. „Mit sieben Stichen erobern wir die Welt“, ist die Überzeugung von Jenny Joosten.
Dann haben die Schüler Stoff in ihre Rahmen eingespannt, sich ein Motiv überlegt, es gezeichnet und mit den gelernten Stichen auf Stoff übertragen. Die meisten haben sich für ein florales Muster entschieden, einer möchte Mond und Sterne sticken, drei versuchen sich in menschlichen Köpfen. Und es ist sehr schön zu sehen, wie sie auf ihre je eigene Art mit der neu erworbenen Technik etwas Neues schaffen. Konzentriert und kreativ. Als kleinen Bonbon hat Jenny Joosten ihnen auch gezeigt, wie man aus einem runden Stück Stoff eine Blume mit Perle in der Mitte zaubern kann. Auch hier sieht man an Materialität und Farbzusammenstellung, wie jeder und jede den eigenen Geschmack entfaltet.
Der Arbeitsweg geht so: Die Schülerinnen und Schüler senden Fotos ihrer Entwürfe und Anfänge an die Lehrerin Jenny Josten und bekommen dann jeder einzeln Anregung und Beratung dazu. Am dritten Tag haben die Schülerinnen und Schüler demokratisch entschieden, dass sie sich auf Motive aus der Pflanzenwelt konzentrieren wollen. So blühen allerhand sehr verschiedenen Blumen und Gräser auf den Stickrahmen. Norwin Bloemen, 20 Jahre, hat einen leuchtenden Fliegenpilz dazu gesetzt. Bei Theresa Hahne (17) aus Neukirchen-Vluyn sind die Blumen in hellen gelben Tönen und orange gehalten; Leonie Nezirevic (17) aus Moers schafft einen leuchtenden bunten Garten. Die fachpraktische Lehrerin Sandrine Koerfer, die von Anfang an mitgemacht hat, kann da sogar eine regionale Zuordnung vornehmen: „Das eine ist Niederrhein, und das andere Bosnien-Herzegowina“, sagt sie. Bei ihr ist alles kräftig Rot und Orange – sie hat französische und italienische Vorfahren.
Es ist geplant, aus den einzelnen Entwürfen ein gesamtes Patchwork zu gestalten – wo das dann aufgehängt wird, darüber ist man sich noch nicht einig. Sowohl Annette Schieck vom Deutschen Textilmuseum und Tagrid Yousef, Fachbereich Migration und Integration, wie auch Schulleiter Stefan Bur haben dringendes Interesse angemeldet. „Der Workshop ist interessant für alle Projektpartner“, sagt Bur. Rahmen ist das EU-geförderte Projekt „The Fabric of My Life“. Dabei arbeiten Annette Schieck vom DTM und Tagrid Yousef schon einige Zeit zusammen: „Die Projektwoche ist ein Offspin“, sagt Schieck, „die Kooperation gefällt mir sehr sehr gut.“