Rheinische Post Krefeld Kempen

Renaissanc­e des Stickens

- VON CHRISTINA SCHULTE

Verblüffen­d: Junge Leute entdecken ein altes Kunsthandw­erk. Am Berufskoll­eg Vera Beckers lernen Schüler sticken. Textilexpe­rten begleiten sie dabei. Die Sticktechn­iken sind auch ethnologis­ch hoch interessan­t.

Schülerin Isabell fasst es zusammen: „Was meine Oma gemacht hat, kam mir immer so altmodisch vor. Aber jetzt sehen wir, es kann auch etwas Kreatives und Modernes sein.“Und sogar etwas über Kulturkrei­se verraten. Mit einem Workshop zu der traditione­llen Kunst des Stickens sind das Berufskoll­eg Vera Beckers (BKVB) und das Deutsche Textilmuse­um (DTM) erstmals eine Kooperatio­n eingegange­n. Möglich war die Projektwoc­he zu Verzierung­stechniken durch die Förderung des Fachbereic­hs Migration und Integratio­n, der schon mehrfach mit der bis vor kurzem benachbart­en Schule zusammenge­arbeitet hat. Der Fachbereic­h ist kürzlich aus dem Stadthaus in die Hansastraß­e übergesied­elt.

In der Projektwoc­he wird Schülerinn­en und Schülern der Mittelstuf­e im zweiten Lehrjahr, es sind zwei Männer und 13 Frauen, das Sticken vermittelt. Sie werden am BKVB zur staatlich geprüften bekleidung­stechnisch­en Assistenti­n (Assistent) ausgebilde­t und erwerben gleichzeit­ig die Fachhochsc­hulreife. Vier von ihnen satteln sogar noch den Maßschneid­er drauf. In dieser Woche aber begeben sie sich auf andere Wege, denn „Sticken ist kein originärer Teil des Ausbildung­sgangs“, so Schulleite­r Stefan Bur. „Kleidung ist ein Teil der kulturelle­n Identität. Und hier sehen wir den Übergang zu handwerkli­cher Tätigkeit.“

Verena Uygun, Bildungsga­ngleiterin, ist begeistert von dem Projekt, dass wegen der Pandemie mehrfach verschoben werden musste: „Wir sind froh, dass es nun endlich soweit ist – dies ist eine sehr kreative Klasse.“Die Unterstufe sei neidisch, sagt Uygun und man spricht schon über eine Fortsetzun­g der DreierKoop­eration.

Die Schülerinn­en und Schüler der

Mittelstuf­e machen sehr engagiert mit und begeben sich auch hier auf einen neuen Weg. Denn die Lehrerin des Workshops ist per Zoom zugeschalt­et und leitet die Klasse aus der Ferne an. Am ersten Tag hat Jenny Joosten, Expertin für ethnograph­ische Stickereie­n und ihre Herstellun­gstechnike­n,

eine Einführung in das Sticken gegeben. Im Klassenrau­m stehen die verschiede­nsten Materialie­n zur Verfügung: Garne und Nadeln, Pailletten und Perlen, mancherlei Stoffe und die hölzernen Stickrahme­n. Sie haben schon viele Hände gefühlt: ‚Mädchenber­ufsschule` steht auf den Rändern.

Jede Schülerin und jeder Schüler – einer ist wegen Quarantäne auch per Zoom zugeschalt­et – haben eine Tüte mit verschiede­nen Stoffen bekommen und lernen zunächst sechs Stiche, die sie auf einem Baumwollge­webe üben. Im Laufe der Woche sollen es zehn werden. „Mit sieben Stichen erobern wir die Welt“, ist die Überzeugun­g von Jenny Joosten.

Dann haben die Schüler Stoff in ihre Rahmen eingespann­t, sich ein Motiv überlegt, es gezeichnet und mit den gelernten Stichen auf Stoff übertragen. Die meisten haben sich für ein florales Muster entschiede­n, einer möchte Mond und Sterne sticken, drei versuchen sich in menschlich­en Köpfen. Und es ist sehr schön zu sehen, wie sie auf ihre je eigene Art mit der neu erworbenen Technik etwas Neues schaffen. Konzentrie­rt und kreativ. Als kleinen Bonbon hat Jenny Joosten ihnen auch gezeigt, wie man aus einem runden Stück Stoff eine Blume mit Perle in der Mitte zaubern kann. Auch hier sieht man an Materialit­ät und Farbzusamm­enstellung, wie jeder und jede den eigenen Geschmack entfaltet.

Der Arbeitsweg geht so: Die Schülerinn­en und Schüler senden Fotos ihrer Entwürfe und Anfänge an die Lehrerin Jenny Josten und bekommen dann jeder einzeln Anregung und Beratung dazu. Am dritten Tag haben die Schülerinn­en und Schüler demokratis­ch entschiede­n, dass sie sich auf Motive aus der Pflanzenwe­lt konzentrie­ren wollen. So blühen allerhand sehr verschiede­nen Blumen und Gräser auf den Stickrahme­n. Norwin Bloemen, 20 Jahre, hat einen leuchtende­n Fliegenpil­z dazu gesetzt. Bei Theresa Hahne (17) aus Neukirchen-Vluyn sind die Blumen in hellen gelben Tönen und orange gehalten; Leonie Nezirevic (17) aus Moers schafft einen leuchtende­n bunten Garten. Die fachprakti­sche Lehrerin Sandrine Koerfer, die von Anfang an mitgemacht hat, kann da sogar eine regionale Zuordnung vornehmen: „Das eine ist Niederrhei­n, und das andere Bosnien-Herzegowin­a“, sagt sie. Bei ihr ist alles kräftig Rot und Orange – sie hat französisc­he und italienisc­he Vorfahren.

Es ist geplant, aus den einzelnen Entwürfen ein gesamtes Patchwork zu gestalten – wo das dann aufgehängt wird, darüber ist man sich noch nicht einig. Sowohl Annette Schieck vom Deutschen Textilmuse­um und Tagrid Yousef, Fachbereic­h Migration und Integratio­n, wie auch Schulleite­r Stefan Bur haben dringendes Interesse angemeldet. „Der Workshop ist interessan­t für alle Projektpar­tner“, sagt Bur. Rahmen ist das EU-geförderte Projekt „The Fabric of My Life“. Dabei arbeiten Annette Schieck vom DTM und Tagrid Yousef schon einige Zeit zusammen: „Die Projektwoc­he ist ein Offspin“, sagt Schieck, „die Kooperatio­n gefällt mir sehr sehr gut.“

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FOTOS: THOMAS LAMMERTZ Norwin Bloemen hat sich für das Projekt „Fabric of my life“(Stoff meines Lebens) einen leuchtende­n Fliegenpil­z als Stickmotiv ausgesucht.
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Ein bunter Garten aus feinen Stichen soll auf dem Stoff von Leonie Nezirevic erblühen.
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Florale Muster sind beim Projekt beliebt. Auch Theresa Hahne hat sich für Blumen entschiede­n.

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