Rheinische Post Krefeld Kempen
Die dunkle Seite der Einheit
Am Tag der Bundestagswahl vor einer Woche zeichneten sich die Umrisse der alten Bundesrepublik und der früheren DDR wieder ab – bei den Zustimmungen zur AfD. Warum Rechtspopulismus und Rechtsextremismus im Osten viel mit Totschweigen zu tun haben.
BERLIN 31 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist die ehemalige Grenze zwischen dem nördlichen Thüringen und dem südlichen Niedersachsen nicht mehr zu erkennen. Natürlich nehmen die Menschen im Landkreis Göttingen die A38 im benachbarten Eichsfeld, natürlich fahren die Eichsfelder zum Weihnachtsmarkt in Göttingen. Der Flugplatz Göttingen liegt in Thüringen. Und doch haben die Bundestagswahlen einen massiven Unterschied deutlich gemacht. Im Landkreis Göttingen bekam die AfD 6,1 Prozent, im Nachbarwahlkreis Nordhausen-Eichsfeld waren es fast vier Mal soviel: 22,5 Prozent. Auch die Vergleiche in anderen Regionen zeigen, wie geteilt Deutschland am Tag der Deutschen Einheit in der Einstellung zu Rechtsextremismus und Rechtspopulismus ist.
Wer die Wahlergebnisse für die AfD je nach Größe um so dunkler einfärbt, hat plötzlich die uralte Landkarte mit der Unterscheidung zwischen Bundesrepublik und DDR wieder vor sich. Die ehemalige Grenze zeichnet sich scharf ab. Von den Bundesländern im Westen grenzten Bayern, Hessen, Niedersachsen
und Schleswig-Holstein an die DDR: Hier fuhr die AfD zwischen 6,8 und 9,0 Prozent ein. Fünf Bundesländer liegen auf dem Gebiet der früheren DDR an der Grenze zum Westen: Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Die AfD-Erfolge lagen hier zwischen 18,0 und 24,6 Prozent. Kein Ausreißer, ein gemeinsamer Befund: Wo früher Sozialismus herrschte, gibt es heute eine Sympathie zur AfD.
Das hat unterschiedliche Ursachen. Sicherlich gehört dazu, dass sich viele Bürger der DDR in den brachialen Umwälzungen als Verlierer der Einheit fühlten. Das hat eine Neigung beflügelt, den Protest zu wählen, und zwar so, dass er „denen da oben“am meisten wehtut. Die Linke profitierte lange Zeit vom Image der Protestbewegung und hat diese Funktion nun an die AfD abgegeben. Ähnliche Werte zeigen sich beim Rechtsextremismus-Potenzial
und bei Umfragen zu politischen Überzeugungen. „Deutschland braucht eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“, sagen im Westen 1,8 Prozent, im Osten 8,8.
Auf den ersten Blick ist schwer verständlich, warum drei Jahrzehnte nach der Einheit die Wähler gerade in diesen Gebieten kein Problem mit einer von vielen als faschistisch bezeichneten Partei haben, obwohl sie in der DDR im Geiste des staatlich vorgegebenen Antifaschismus aufgewachsen waren. Sie sind in Thüringen nicht abgeschreckt von der AfD-Devise „Alles für Deutschland“, obwohl sie als Losung der nationalsozialistischen SA vorbelastet ist. Und sie finden ganz offensichtlich auch nichts dabei, dass in Sachsen der Spitzenkandidat Tino Chrupalla ein Parteiausschlussverfahren gegen den Parteifreund Matthias Helferich mitten im Wahlkampf für unnötig hält, nachdem dieser sich selbst als „freundliches Gesicht des NS“bezeichnet hatte. Im Gegenteil: Sie machen mit ihren Stimmen die AfD bei der Bundestagswahl in Thüringen und Sachsen zur stärksten Partei.
Es ist richtig, dass die AfD ihre Stärke im Osten operativ auch einer großen Anzahl von Westimporten verdankt. Björn Höcke in Thüringen verbrachte seine Kindheit und Jugend in Rheinland-Pfalz, unterrichtete in Hessen, der ehemals starke AfD-Mann in Brandenburg, Andreas Kalbitz, ist ein gebürtiger Bayer und selbst der „Brandenburger“AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland machte in Hessen Karriere. Erst jüngst wechselte ein unter NRW-Verfolgungsdruck stehender Neonazi von Dortmund nach Chemnitz, fügte sich in die dort bestehenden rechtsextremistischen Netzwerke ein. Die waren nach der Wende schon von Rechtsradikalen aus dem Westen ausgebaut worden.
Aber: Es gab sie bereits. Und zwar als lange verschwiegene Größe. Die Vorstellung von der Entnazifizierung nach dem Krieg entwickelte sich höchst unterschiedlich. Im Westen blieben ehemalige Nazis in den Strukturen, im Osten wurden sie gefeuert. Doch im Westen erfolgte über Jahrzehnte eine intensive Auseinandersetzung und wachsende Abgrenzung. Zugleich fiel in der DDR die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, schlicht aus. Es genügte die reine Lehre: Der Sozialismus hat den Faschismus besiegt, und da es im Sozialismus keinen Faschismus geben kann, gibt es in der DDR auch keine Faschisten. Punkt. Dass die Stasi Nazis gezielt anheuerte und integrierte, wurde genauso verschwiegen, wie das Entstehen von immer mehr Neonazi-Gruppen in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren. Der damalige Kriminalpolizist Bernd Wagner schilderte seine Ermittlungen in FDJ-Jugendclubs, die von Neonazis regelrecht „okkupiert“worden seien und schätzte aufgrund seiner Recherchen, dass am Ende in der DDR rund 15.000 Neonazis aktiv gewesen seien.
Die SED-Führung verschwieg das wachsende Problem genauso, wie Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf jede Gefahr von rechts außen ignorierte. Acht Monate vor der Wiedervereinigung wies der damalige DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß darauf hin, dass wirkliche „Trauerarbeit“geleistet werden müsse. Das sei nach dem Krieg in der DDR versäumt worden. Es sei zwar gesagt worden „wir sind ein antifaschistischer Staat“, aber das sei „nicht in die Tiefe gegangen“. Weiß sagte voraus: Wenn dies wieder nicht gelinge, dann komme in 30, 40 Jahren „dieselbe Scheiße wieder hoch“. Das ist jetzt 31 Jahre her.