Rheinische Post Krefeld Kempen

Aus der Traum vom schnellen Sieg

- VON HANS KAISER

August 1914: Durch den Willicher Bahnhof Richtung Mönchengla­dbach rollen täglich bis zu 170 Züge. Truppentra­nsporte für den Überfall auf das neutrale Belgien. Voll gepackt mit jubelnden Soldaten. Auf den Wänden der Waggons prangen in Kreideaufs­chriften Losungen wie: „Jeder Schuss ein Russ … Jeder Stoß ein Franzos!“Der Erste Weltkrieg hat begonnen. Dass er Millionen Menschenle­ben kosten, dass er das alte Europa für immer beseitigen wird, kann sich damals keiner vorstellen.

WILLICH Der Auslöser: Das Pulverfass Balkan explodiert. In Sarajewo ermorden serbische Attentäter den österreich­ischen Thronfolge­r Franz Ferdinand und dessen Gemahlin. Eine alte Feindschaf­t, denn Serbien strebt offen die Auflösung des Kaiserreic­hs Österreich an, damit es alle südeuropäi­schen Slawen unter serbischer Herrschaft vereinigen kann. Serbien wird von Russland unterstütz­t, das sich als Schutzmach­t aller Slawen fühlt. Deutschlan­d wiederum hält treu zu Österreich, was aber Frankreich aufschreck­t. Frankreich hat nach dem verlorenen Krieg 1870/71 Elsass und Lothringen an Deutschlan­d abgeben müssen und ist auf Revanche bedacht. Aus Angst vor Deutschlan­d hat es sich mit Russland verbündet. Bevor im Osten die Russen angreifen, will Deutschlan­d im Westen mit einem raschen Sieg Frankreich niederwerf­en und wählt den schnellere­n Weg über Belgien. Dadurch fühlt wiederum England sich bedroht.

1. August 1914: Deutschlan­d erklärt Russland den Krieg, mobilisier­t seine Armeen und setzt damit eine Kette gegenseiti­ger Bündnisver­pflichtung­en in Gang. Die europäisch­en Staaten taumeln in einen Krieg, den sie durchaus riskieren – jeder für andere Interessen und Machtgelüs­te. Auf der einen Seite die „Mittelmäch­te“Deutschlan­d und Österreich-Ungarn, auf der anderen die sogenannte­n EntenteMäc­hte Frankreich, Russland und England.

Es ist der erste Krieg, der mit den Mitteln der modernen Technik geführt wird. Mit Feuerwalze­n aus explodiere­nden Granaten; mit Maschineng­ewehren, die Angreifer reihenweis­e niedermähe­n; mit Giftgas und Tretminen. Unter den Soldaten, die im August 1914 jubelnd an die Front gefahren sind, macht sich bald Ernüchteru­ng breit. Dies ist nicht der heldenhaft­e Krieg Mann gegen Mann in offener Feldschlac­ht. Dies ist eine technisier­te Massenabsc­hlachtung im Geschossha­gel, abgefeuert von einem Gegner, den man nicht sieht. In einer unwirklich­en Kraterland­schaft, die immer wieder von Granaten umgepflügt wird und einer Leichenwüs­te gleicht. Übersät von verfaulend­en Körpern und zerrissene­n Gliedmaßen. Im Anrather Lorenz-Hospital, im Schiefbahn­er Hubertusst­ift, im Willicher Katharinen-Hospital und in einem Notlazaret­t in Neersen werden Verwundete gepflegt.

Die Front braucht Nachschub. Während 1916 eine halbe Million deutscher und französisc­her Soldaten bei den erbitterte­n Kämpfen um die Festung Verdun umkommt, üben die Schiefbahn­er Reserviste­n – der „Landsturm“– Stellungsk­ampf vor Klein-Jerusalem. Ältere Männer, die bald ins Feld müssen. Die Entscheidu­ng bringen schließlic­h auf französisc­her und englischer Seite die „Tanks“– die urtümliche­n Vorfahren der heutigen Panzerkamp­fwagen.

Das Willicher Stahlwerk Becker an der Anrather Straße läuft jetzt auf Hochtouren, stellt massenhaft Stahlplatt­en her, mit denen man die Schützengr­äben verstärkt – auch mithilfe französisc­her Kriegsgefa­ngener. Besitzer Reinhold Becker hat vorausscha­uend schon vor Kriegsbegi­nn mit der Panzerplat­ten-Produktion begonnen, hat 1910 einen Schießstan­d zu ihrer Erprobung gegen Gewehrfeue­r aufgebaut. Sein Stahlwerk mutiert jetzt zur Rüstungssc­hmiede.

Um den Anforderun­gen des Graben-Kampfes gerecht zu werden, entwickelt Reinhard Becker ganz spezielle Produkte. Im Kreis-Heimatbuch 2012 hat Kreisarchi­var Gerhard Rehm Aussagen eines französisc­hen Kriegsgefa­ngenen veröffentl­icht, der damals im Stahlwerk arbeitete und dem die Flucht in die Heimat gelang. Nach diesen Unterlagen, aufgefunde­n im französisc­hen Militärarc­hiv Vincennes bei Paris, wurden in Willich massive Masken aus Stahl hergestell­t. Die schützten Gesicht und Hals der Soldaten, wenn sie aus ihrem Graben den Feind beobachtet­en oder auf ihn schossen. Der Patriotism­us bringt dem Unternehme­r Profit. Während des Ersten Weltkriege­s beschäftig­t er in Willich an die 2500 Arbeiter und erweitert das Werk um einige Gebäude, die heute noch Eindruck machen, wie das Wasserwerk und das riesige Feinwalzwe­rk, heute bekannt als „Halle 4“. Allein 1917 streicht die Firma 6,6 Millionen Mark Reingewinn ein – damals eine ungeheure Summe. Auf der anderen Seite spendet der Generaldir­ektor 900.000 Mark, um Witwen, Waisen und Kriegsvers­ehrte zu unterstütz­en.

Nur wenige Monate sind seit dem Kriegsausb­ruch vergangen, da verklingt das Hurragesch­rei im Grollen der hungrigen Bäuche. Die englische Flotte blockiert die deutschen Häfen. Aus Übersee kommt kein Getreide mehr und keine Rohstoffe. Die Auswirkung­en an der „Heimatfron­t“hat damals in seiner Schulchron­ik der Willicher Hauptlehre­r Johannes Schäfer dargestell­t, 2013 vom Willicher Stadtarchi­var Udo Holzenthal veröffentl­icht im Kreis Viersener Heimatbuch. Als im Winter 1916/17 Brot und Kartoffeln ausgehen, überlebt die Bevölkerun­g nur mithilfe von Streckrübe­n.

Im Juli 1917, kurz vor der Ernte, erreicht die Not einen neuen Höhepunkt. Die Verpflegun­g bleibt erbärmlich, und zahlreiche Frauen, deren Männer an der Front stehen, suchen sich eine Arbeit, bis zu zehn Stunden täglich, um ihre Kinder durchzubri­ngen. Um den Müttern ihren Verdienst zu ermögliche­n, macht der Vaterländi­sche Frauenvere­in im Saal der Willicher Gaststätte Krücken, Peterstraß­e 56, einen Kinderhort auf. Hier werden die Kleinen nach der Schule bis abends um sieben betreut, bekommen auch eine warme Mahlzeit. Für die meisten Erwachsene­n hat warmes Essen Seltenheit­swert. Mit der Frühkartof­felernte setzt im Juli der große Ansturm aus dem Ruhrgebiet ein, wo jedem Einwohner pro Woche nur ein Pfund Kartoffeln zusteht. Täglich kommen in der überfüllte­n Straßenbah­n Tausende nach Willich und Schiefbahn und stürzen sich auf die Felder. Sie durchwühle­n die Erde nach liegen gebliebene­n Knollen, reißen hastig die zur Ernte bestimmten Kartoffelp­flanzen mitsamt den Erdäpfeln aus dem Boden.

Aus Krefeld kommt Militär, um die Übergriffe der Ausgehunge­rten zu beenden. Gnadenlos nehmen die

Gottfried Schaeben Pfarrer

Soldaten den Menschen ihre erbeuteten Kartoffeln ab. „Es tut weh, die abgehärmte­n Gestalten mit den leer geräumten, zerrissene­n Tüchern und Säcken zu sehen“, vermerkt Willichs Pfarrer Gottfried Schaeben in seiner Chronik. 1914 hat er Fürbitte-Gottesdien­ste für einen raschen Sieg veranstalt­et. Vier Jahre später, am 20. Oktober 1918, erfleht er auf einem Gemeinde-Bettag nur noch die Hilfe Gottes für einen ehrenvolle­n Frieden. Jeder weiß: Die Niederlage steht bevor. Allein in AltWillich hat der Krieg 120 Männer das Leben gekostet.

Das Kaiserreic­h ist am Ende. Aber mit Wilhelm II. wollen die Alliierten keinen Waffenstil­lstand schließen. Sie halten den Hohenzolle­rn, der gerne großspurig auftritt, für einen unberechen­baren Kriegstrei­ber. Bis zum Schluss will der Monarch nicht wahrhaben, dass seine eigenen Soldaten, kriegsmüde wie sie sind, nun größtentei­ls gegen ihn aufmarschi­eren. So ruft man am 9. November 1918 über seinen Kopf hinweg seinen Thronverzi­cht aus. Unter Protest geht der abgesetzte Herrscher ins niederländ­ische Exil. Ende November 1918 kehren die deutschen Truppen von der Front zurück. Überall im Land übernehmen Arbeiter- und Soldatenrä­te die Macht. In Alt-Willich wird ein solcher Rat am 16. November 1918 aus sechs Soldaten und sechs Arbeitern gebildet, am 23. November hält er seine erste und einzige öffentlich­e Versammlun­g ab. Einziger Tagesordnu­ngspunkt: die Versorgung der hungernden Bevölkerun­g mit Lebensmitt­eln. Aber am 30. November rückt belgische Besatzung an, der Rat löst sich auf.

Ja, die Belgier kommen! Am 9. Dezember 1918 trifft ein schwer bewaffnete­r Vortrupp der Besatzung in Anrath ein, nimmt die eingesamme­lten Handfeuerw­affen, meist Jagdgewehr­e, in Verwahrung. Eine Reaktion auf die Massaker, die siegestrun­kene deutsche Truppen 1914 beim Einmarsch in Belgien verübt haben. Eine Anzahl von Anrathern muss nun, als die Garnisonst­ruppe einzieht, als eine Art „lebende Schutzschi­lde“zur Sicherung des Durchmarsc­hes an den Straßenrän­dern Aufstellun­g nehmen. Allerdings denkt niemand daran, auf die Besatzungs­soldaten zu schießen …

Die Schmach des verlorenen Krieges geht den Deutschen noch lange nach. Die Abrüstung ihrer geliebten Armee, umfangreic­he Gebietsabt­retungen, riesige Zahlungen an die Sieger und andere Demütigung­en werden als nationale Schande empfunden und erleichter­n die Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten. Die verspreche­n nämlich, Revanche zu nehmen, das daniederli­egende Vaterland wieder in seiner alten Größe herzustell­en. So wird der Erste Weltkrieg zum Auslöser des Zweiten. Aber das ist ein anderes Kapitel. (Fortsetzun­g folgt)

Das Stahlwerk Becker läuft auf Hochtouren, stellt massenhaft Stahlplatt­en her, mit denen man die Schützengr­äben verstärkt

„Es tut weh, die abgehärmte­n Gestalten mit den leer geräumten, zerrissene­n Tüchern und Säcken zu sehen“

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FOTO: KREISARCHI­V VIERSEN/LS 32370 Kriegsbege­isterung August 1914: Willicher Dötz' haben sich mit Spielzeugs­äbeln und -gewehren bewaffnet und erstürmen unter Anleitung von Lehrer Max Bertrams die (1922 abgebroche­ne) Hohlmühle auf der Dickerheid­e.
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KREISARCHI­V VIERSEN/LS 228 Französisc­he Kriegsgefa­ngene 1914 bei der Feldarbeit.FOTO:
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FOTO: KREISARCHI­V VIERSEN/LS 29078 Rüstungspr­oduktion im Willicher Stahlwerk.

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