Rheinische Post Krefeld Kempen
Der inszenierte Mensch
Unter dem Titel „Fremde sind wir uns selbst“zeigt das Wuppertaler Von-derHeydt-Museum, welche Schätze an Porträts es hütet – ein Panorama von Francis Bacon bis zu Zanele Muholi.
WUPPERTAL In Georg Büchners Drama „Woyzeck“sinniert die Titelfigur: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hineinschaut.“Nicht nur im Theater begegnet man solchen aus der Wirklichkeit gegriffenen Gestalten, auch in der Porträtmalerei. Bildnisse, ob auf der Bühne oder der Leinwand, spiegeln den Blick des Porträtisten oder der Porträtistin mindestens ebenso wie die dargestellte Person selbst. Daran muss denken, wer sich in eine Ausstellung des Wuppertaler Von-der-Heydt-Museums vertieft: „Fremde sind wir uns selbst. Bildnisse von Paula Modersohn-Becker bis Zanele Muholi“.
Die Schau mit mehr als 100 hochrangigen Gemälden, Fotografien und Zeichnungen legt nebenbei Zeugnis davon ab, wie gut nicht nur das Von-der-Heydt-Museum in der Corona-Zeit gelernt hat, sich in Phasen unsicherer Terminplanung auf seine eigenen Bestände zu besinnen. „Fremde sind wir uns selbst“beleuchtet das Thema (Selbst-)Darstellung und Repräsentation in der Bildenden Kunst anhand von Werken aus der Sammlung, fast ohne Leihgaben. Große Museen haben ihre Autarkie entdeckt.
Der Titel der Wuppertaler Ausstellung ist einem Buch der bulgarisch-französischen Philosophin Julia Kristeva von 1990 entliehen und bedeutet, dass der fremde Teil eines jeden Menschen lediglich eine verborgene Seite seiner selbst sei. Künstlerinnen und Künstler haben das seit der Renaissance als Herausforderung begriffen und im Porträt zur Blüte getrieben. Die von Anna Storm kuratierte Schau des Vonder-Heydt-Museums setzt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit Edgar Degas ein und endet mit der Südafrikanerin Zanele Muholi in der Gegenwart.
Man kann der Kuratorin in ihrer Raumgliederung von „Formen der Inszenierung“bis zu „Intimität und Nähe“folgen, man kann aber ebenso in sommerlicher Leichtigkeit einzelne Bilder für sich sprechen lassen und versuchen, ihre Geheimnisse zu ergründen. Paula Modersohn-Beckers „Mädchenbildnis mit gespreizter Hand vor der Brust“zum Beispiel blickt den Betrachter von der Wand herab so eindringlich an, als hätte es ihm etwas Dringendes mitzuteilen. Hell erleuchtet hebt sich das Gesicht von Kleidung und verschwimmendem Hintergrund ab.
Auf andere Weise nimmt Zanele Muholi ihre europäischen Betrachter fest in den Blick. In einem schwarz-weißen, überwiegend aber schwarzen fotografischen Selbstporträt zeigt sie sich mit Schläuchen umwickelt, die sich auf dem Kopf zu einem Turban türmen. Muholi versteht sich als eine non-binäre Person, also nicht ausschließlich männlich oder weiblich, und befasst sich in ihrer Kunst unter anderem mit der Unterdrückung solcher Menschen unter dem Kolonialismus. Die Schläuche könnten beispielsweise als Fremdkörper aus der westlichen Welt gedeutet werden, die Schwärze der Fotografie als Blick in den Abgrund.
Ein Bild, an dem man leicht vorübergeht, ist Edgar Degas‘ um 1886 entstandenes Pastell „Bildnis einer jungen Frau“. Degas, der nicht als Mann, sondern nur als Künstler an Frauen ein Interesse hatte und gern Tänzerinnen hinter der Bühne malte, hat hier bezaubernd getroffen, was der zugehörige Raum im Titel bezeichnet: innere Versunkenheit, ein Zustand, der Maler und Modell vermutlich miteinander verbunden hatte.
Das Gegenteil strahlt aus Henri de Toulouse-Lautrecs „Dicker Marie“aus derselben Zeit. Die unbekleidete Frau – man deutet sie als Prostituierte im Pariser Montmartre-Viertel – blickt Betrachter des Bildes schamlos, fast provokant ins Gesicht.
Zu den Höhepunkten der Schau und erst recht der Von-der-HeydtSammlung zählt Francis Bacons zwei mal 1,50 Meter messende Leinwand „Studie für ein Selbstbildnis“von 1981. Wie so oft bei Bacon sitzt hier in einem schwarz abgegrenzten Raum eine menschliche Gestalt, deren Gesicht, Hände und Hemd verwischt erscheinen: isoliert wie jene schreienden Päpste des Malers, die dem Selbstbildnis früh vorausgegangen waren. Zwischen Beckmann, Maria Blanchard, Miriam Cahn, Munch und Picasso befindet sich Bacon in dieser Ausstellung in bester Gesellschaft – auch sie Malerinnen und Maler, die nach dem zweiten Ich in sich und in anderen suchten.