Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Angst vor dem Lebensaben­d

- VON JULIA RATHCKE

„Lieber tot als im Pflegeheim“: So denkt laut einer Studie der Deutschen Stiftung Patientens­chutz jeder Dritte. Die meisten Betroffene­n auch in NRW werden zu Hause gepflegt. Sind Einrichtun­gen zu Recht letzte Wahl?

Wenn es eines gibt, was den Anfang und das Ende eines langen Lebens elementar verbindet, dann ist es die Hilfs- und Schutzbedü­rftigkeit. Menschen gehen, wie sie auf die Welt kommen – sie müssen umsorgt und unterstütz­t werden, medizinisc­h, emotional und auch ganz pragmatisc­h. Während Säuglinge keinen Einfluss auf ihren Start ins Leben haben, können Senioren theoretisc­h selbst bestimmen über die Frage, die angesichts der steigenden Lebenserwa­rtung wichtiger ist denn je: Wo und wie will ich eigentlich alt werden?

In den allermeist­en Fällen lautet die Antwort: in den eigenen vier Wänden. 89 Prozent möchten im Falle einer Pflegebedü­rftigkeit zu Hause und nicht im Pflegeheim betreut werden, das ergab eine am Sonntag veröffentl­ichte Umfrage im Auftrag der Deutschen Stiftung Patientens­chutz. Nur neun Prozent würden eine Pflegeeinr­ichtung bevorzugen. Die erschrecke­nde Erkenntnis der repräsenta­tiven Befragung: Sollte eine schwere Erkrankung eine Pflege zu Hause nicht mehr möglich machen, würde sich gut die Hälfte (54 Prozent) zwar doch für eine Einrichtun­g entscheide­n

– jeder Dritte aber würde einen begleitete­n Suizid bevorzugen. Unterschie­de nach Geschlecht, Altersklas­se oder Bildungsst­and ergab die Studie kaum.

Lieber tot als in eine Pflegeeinr­ichtung, das Heim als Horrorszen­ario – es hat sich in der kollektive­n Vorstellun­g offenbar festgesetz­t. Negativsch­lagzeilen von Einzelfäll­en mögen dazu beigetrage­n haben, das Bild von dunklen, engen und nach Urin riechenden Betreuungs­stätten zu verfestige­n. Der Normalfall ist dies in den rund 3000 stationäre­n Einrichtun­gen, die es in Nordrhein-Westfalen insgesamt gibt, gewiss nicht. „Es hat sich viel getan“, sagt Josef Neumann, Vorsitzend­er des Ausschusse­s Arbeit, Gesundheit und Soziales im Düsseldorf­er Landtag. „Einrichtun­gen sind heute mehr auf die Bedürfniss­e der Menschen eingestell­t, sind heller, freundlich­er gestaltet und oft auch nicht mehr so groß angelegt.“Der Pflegenots­tand, die Arbeitsbed­ingungen und der Personalma­ngel, all das sind für den SPD-Politiker Probleme, die dringend angepackt werden müssen. Die Studie aber versteht er vor allem als Weckruf an die Gesellscha­ft: „Es besteht enorm viel Aufklärung­sbedarf, viele haben keine Vorstellun­g davon, wie stationäre Pflege heute aussieht“, so der Gesundheit­spolitiker. Es müsse um alternativ­e Wohnformen gehen, das Thema Einsamkeit im Alter und auch um Finanzierb­arkeit. Die Leistungen der Pflegevers­icherungen anzuheben, sei ein Vorschlag, „aber die Gesellscha­ft muss bereit sein, den Preis dafür zu zahlen“.

So existenzie­ll die Frage nach einem Altern in Würde ist – oft beginnt die Auseinande­rsetzung erst, wenn es eigentlich

Investitio­nskosten2 zu spät ist. Das bestätigt Pflegewiss­enschaftle­rin Felizitas Bellendorf von der Verbrauche­rzentrale NRW. Sich in der Familie mit dem Thema zu beschäftig­en, falle vielen schwer: „Betroffene müssen es sich selbst eingestehe­n, und dann müssen sie es anderen eingestehe­n.“Ein Umzug in eine Einrichtun­g komme für die meisten erst nicht infrage. Dabei würde eine Beratung immer Sinn machen, meint die Expertin und empfiehlt den „Pflegewegw­eiser NRW“– eine Online-Orientieru­ngshilfe für Beratungss­tellen vor Ort.

Dennoch: In NRW waren nach zuletzt veröffentl­ichten Angaben 2019 etwa 965.000 Menschen auf Pflege angewiesen, der Sozialverb­and VdK NRW geht inzwischen von mehr als einer Million aus. Weit über 70 Prozent werden zu Hause betreut. Der Wunsch nach Unabhängig­keit und Vertrauthe­it mag eine Rolle spielen, die hohen Kosten für Pflegeeinr­ichtungen, vielleicht auch der Stolz und die Sorge davor, seine Würde ein Stück weit an der Pforte abgeben zu müssen. „Es gibt gute Einrichtun­gen in

Unterkunft und Verpflegun­g

Eigenantei­l

NRW“, betont der Sozialverb­and VdK, nicht jeder Mensch könne und wolle zu Hause gepflegt werden. „Wir dürfen stationäre und häusliche Pflege aber nicht gegeneinan­der ausspielen.“

Es geht also – den Personalno­tstand und die Frage der Kosten einmal außen vor gelassen – nicht ausschließ­lich darum, stationäre Angebote attraktive­r zu machen. Indem sie besser angebunden, offener vernetzt werden. Das Heim isoliert auf der grünen Wiese, das kann heute nicht mehr die Lösung sein. Es braucht, was es mancherort­s schon gibt: den Austausch mit Kindergärt­en oder Schulen etwa, Tage der offenen Tür, einen offenen Mittagstis­ch auch für Nicht-Bewohner – kurzum: echte Teilhabe. Auch neue Wohnformen, Senioren-WGs oder Generation­shäuser dürfen keine hippen Gedankenex­perimente bleiben, sondern sollten alltäglich werden. Inflation, Altersarmu­t und zunehmende Einsamkeit auch aufgrund der Tatsache, dass es das eine Familienbi­ld nicht mehr gibt und sich Lebenswelt­en räumlich zerstreuen, sind komplexe Herausford­erungen. Die Entweder-Oder-Lösung, Heim oder Heimat, kann dem kaum gerecht werden. Der Gedanke, lieber aus dem Leben zu scheiden, statt in ein Heim zu ziehen, wenn es nicht mehr anders geht, ist in einer Umfrage sehr viel theoretisc­her. Zudem kritisiere­n Verbände und die Wohlfahrts­pflege, dass die Kerngruppe, die Über-80-Jährigen, bei der Studie gar nicht berücksich­tigt wurde. Dennoch: Wege des Altwerdens aufzuzeige­n, kann Angehörige entlasten, die nicht selten still leiden unter der körperlich­en, emotionale­n und auch finanziell­en Last der häuslichen Pflege. Nicht zuletzt sind es die Menschen in der Altenpfleg­e, die ihren Beruf mit Herzlichke­it und Engagement füllen. Und denen die Umfrageerg­ebnisse in ihrer Härte wohl auch Unrecht tut.

„Wir dürfen stationäre und häusliche Pflege nicht gegeneinan­der ausspielen“Manuela Anacker

Finanziell­e Belastung1 eines Pflegebedü­rftigen in der stationäre­n Pflege in NRW

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