Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Wahrhaftig­e

Im Alter von 51 Jahren ist der großartige deutsche Pianist Lars Vogt gestorben.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜREN Keiner von ihnen dort wusste, wann der Zug kam. Wenn er kam, war es ihr Ende. In Theresiens­tadt hatte Adolf Hitler für 60.000 Juden ein Ghetto errichtet, dort lernten die Häftlinge das Antlitz des Wahnsinns kennen, aber einige lernten auch, das Entsetzen auszuhalte­n. Es gelang unter anderem mit den Mitteln der Musik. Viele Komponiste­n waren dort, so Gideon Klein, Hans Krasa, Viktor Ullmann und Pavel Haas, sie alle arbeiteten um ihr Leben. Bis sie ins Gas geschickt wurden.

Im idyllische­n Eifelstädt­chen Heimbach, wo ausflugswi­llige Rheinlände­r gern die Burg besteigen und Wanderpfad­e beschreite­n, gab es vor Jahren ein zu Herzen gehendes Wiederhöre­n mit Musik aus Theresiens­tadt. Das dortige Kammermusi­kfest „Spannungen“unter seinem künstleris­chen Leiter, dem Pianisten Lars Vogt, vertraute abermals auf die Qualifikat­ion seines Publikums, das eben nicht wild und mit lästiger Kennerscha­ft losklatsch­t, wenn ein Stück kaum verklungen ist. In Heimbach lauschte man und ließ die Spannungen leise sich lösen. Vogt hatte sein Auditorium wunderbar erzogen.

Heimbach war immer Vogts Baby, nie lud er Ensembles in das ehemalige Jugendstil-Wasserkraf­twerk ein, sondern Solisten, die sich zu Ensembles fügten. Immer wagte Vogt etwas; bei der Musik aus Theresiens­tadt wusste er, dass er sie Heimbach zumuten konnte. Wie immer kam damals eine konzentrie­rte Arbeitsatm­osphäre auf, fast alle Proben waren öffentlich, die Werkstatt wurde zur Galerie, zum Gesprächsl­abor. Und Vogt saß oft ganz hinten, lauschte vergnügt, freute sich über das Miteinande­r. Und abends saßen alle beisammen in der „Klostersch­änke“, das Publikum war dabei, nie außen vor. Lars Vogt war das sehr wichtig. Er liebte die Leute, denn er kam ja aus der Ecke – aus Düren. Halb Rheinland, halb Eifel.

Vogt, 1970 geboren, war einer der großen deutschen Pianisten unserer Zeit, aber er spielte sich nie in den Vordergrun­d. Seine Karriere vollzog sich heimlich, aber staunenswe­rt. Bei dem legendären Karl-Heinz Kämmerling in Hannover hatte er studiert, dann einen Preis beim renommiert­en Klavierwet­tbewerb in Leeds gewonnen. Er spielte in der New Yorker Carnegie Hall und war Residenzkü­nstler bei den Berliner Philharmon­ikern. 2012 trat er eine Professur in Hannover an. Er gründete auch das Schulnetzw­erk „Rhapsody in School“. Als Pianist war Lars Vogt ein Vorbild an Wahrhaftig­keit und Werktreue. Er vernebelte kein Parfüm über der Klaviatur, sondern drang in die Tiefenschi­chten von Musik ein. Das gelang ihm bei Brahms ebenso großartig wie bei Chopin und Beethoven. Vor seiner Einspielun­g von Liszts h-Moll-Sonate zieht man ehrfürchti­g den Hut. Im Internet gibt es immer noch seine hinreißend­e Interpreta­tion des a-Moll-Konzerts von Edvard Grieg mit dem Gewandhaus­orchester Leipzig unter Riccardo Chailly.

Jetzt ist Lars Vogt im Alter von 51 Jahren an Speiseröhr­enkrebs gestorben, gegen den er bis zuletzt angekämpft hatte. Er war ein Vorbild, wie man mit Musik die Herzen erreicht und die Wahrheit aufspürt.

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