Rheinische Post Krefeld Kempen
Uwe Esser - Meister der Unschärfe
Bloß nicht alles dem ersten Blick freigeben: Das ist das Prinzip des Krefelder Künstlers. Klar, dass ihn geheimnisvolle Fotografien eines deutschen Geistlichen von vor 100 Jahren aus Südanatolien faszinierten. Die ganze Geschichte.
Uwe Essers Malerei beginnt da, wo eine Frage offen bleibt, weil es keine eindeutige Antwort gibt. Etwas bleibt geheimnisvoll, nebulös, verdeckt. Das reizt den Künstler, der das „Verunschärfen“seit vielen Jahren als künstlerische Sprache perfektioniert. So ist es auch bei den 28 Werken, die der Krefelder in der Villa Goecke bei Ralph Kleinsimglinghaus zeigt. „Crossing the Dust“heißt die Ausstellung. Und Esser hat dafür im Staub der Geschichte gewühlt.
Die Farbigkeit der 1,90 mal 2,30 Meter großen Bilder zieht in den Bann. Doch Essers Bilder haben eine Geschichte, die man sich erlesen muss, nicht Seite für Seite, sondern Schicht für Schicht. Sie verweigern dem flüchtigen Blick ihre Aussagen. Erst nach und nach fügen sich Konturen und Chiffren zusammen. Dann verfangen sich die Widerhaken in der Fantasie des Betrachters und die Gedanken kreisen um jene Frage, die sich auch der Künstler gestellt hat.
„Er sah noch anderes“heißen die zentralen Großformate in Acrylfarben, -pasten, -lacken und Tinten. Was mag das gewesen sein? Die Frage hat sich Esser gestellt. Doch bis dahin - und bis man den Schriftzug im Bild ausmachen kann - gibt es eine Geschichte:
Esser war bei Recherchen für seine Tattoo-Zyklen zu einem kurdischen Kollegen nach Mardi in Südanatolien gereist. Der begrüßte den Kollegen an seinem Arbeitsort in einem armenischen Bürgerpalast, der als Alman Hastanesi bekannt ist - als Deutsches Krankenhaus. „Während des Ersten Weltkriegs war das ein Etappenlazarett der Deutschen Militärmission im Osmanischen Reich“, fand Esser heraus. Seine Neugier war geweckt. Er recherchierte und stieß bei einer Internetauktion auf Fotos von 1917 bis 1918. Wie sich herausstellte, stammten sie aus dem Nachlass eines Soldaten, ursprünglich gehörten sie zu einem Album, das jemand auseinandergerissen hatte, um die Fotografien einzeln zu verkaufen. Die Motive und Titel waren seltsam - etwa „Hund, bei der Mahlzeit an einem Kamelkadaver“. Essers Nachforschungen ergaben, dass der Fotograf ein deutscher Geistlicher gewesen war, der nach Ende des Ersten Weltkriegs deutsche Soldaten repatriieren sollte. Und der Künstler wunderte sich: Warum hat der Mann in einer Zeit, als Fotomaterial knapp und wertvoll war, Hunde fotografiert, gar einen, dem die Hinterbeine
abgefahren worden waren? „Mit Sicherheit hat er Anderes gesehen, das schlimmer war, dass er nicht fotografieren konnte oder wollte“, meint Esser.
Verdecken von Dingen, Motivverschiebungen, Unschärfen einbringen - das ist genau sein Stil. Und so waren die Fotografien, extrem vergrößert, als Photoprint die geeignete Basis für seine Malerei. Schriftzüge sind zu entdecken, bewaffnete Kämpfer. Bei „Ja, mach nur einen Plan“- Brechts Lied von der Unzulänglichkeit hatte Esser dabei im Kopf - zeigt das Foto einen „Araber in Mosul beim Entlausen“. Esser
sagt: Die Perspektive der Kamera von oben nach unten - was ist das für ein hochmütiger Blick?“Was hat der Geistliche auf diese Weise ausdrücken wollen? Bei dieser Frage hat Essers Malerei begonnen, die sich Symbol für Symbol erschließt in an Truppenhelme erinnernden Motiven, einer eher märchenhaft anmutende Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite.
In transparenten Lackschichten hat Esser Spuren über die Fotografien gezogen, hat mit Pinsel und Rakel den Staub einer - vielleicht schon manipulierten - Wirklichkeit durchkreuzt.