Rheinische Post Krefeld Kempen
Das Geheimnis des römischen Soldaten
Die Stationen liegen unter freiem Himmel vor der Kulisse der Burg Linn: der Linner Kreuzweg mit sieben Stationen. Geschaffen hat ihn der Bildhauer und Steinmetz Friedel Lepper. Es lohnt sich, die Figuren genauer zu betrachten.
LINN An den sieben Stationen dieses Kreuzweges sind viele Menschen vermutlich schon so oft vorbeispaziert, dass man nicht mehr genau hinsieht. Wir empfehlen für das nächste Mal einen kleinen Debattenwettbewerb für die ganze Familie: Welches ist das beeindruckendste Relief? Gehen Sie mit der Nasenspitze bis fünf Zentimeter an die Darstellungen und vertiefen Sie sich für einige Sekunden in das, was zu sehen ist. Unsereiner sagt unumwunden: Station Nummer IV ist besonders beeindruckend. Nicht wegen Jesus, nicht wegen Maria, sondern wegen des römischen Soldaten.
Der aus Ratingen stammende Künstler Friedel Lepper (1932 2023), der die Linner Kreuzweg-Reliefs geschaffen hat, hat in diese Darstellung mit wenigen, klaren Zügen das ganze Drama der Heilsgeschichte hineingelegt. Ein Kapitel davon ist, dass diese Heilsgeschichte keine ist. Jedenfalls für die Weltmacht Rom. Die Hinrichtung Jesu war für Rom Alltag, eine von vielen. Aufruhr rund um den Tempel – Auslöser für Jesu Verhaftung war seine Kritik am Tempelbetrieb – war aus Sicht der römischen Besatzer hochgefährlich, weil sich daran rasch Aufstände entzündeten. Wer die fragile Ruhe im besetzten Jerusalem störte, musste sterben.
Die Römer übten dabei keineswegs Willkürjustiz aus. In der biblischen Überlieferung über Verhaftung, Prozess und Hinrichtung Jesu ist vielmehr ein klarer Instanzenweg erkennbar: Jesus wurde vom Synhedrion, also der jüdischen Gerichtsbarkeit, an die Römer ausgeliefert – denn nur bei Rom lag die „potestas gladii“, die Macht des Schwertes, die Erlaubnis, die Todesstrafe zu verhängen. Die römischen Behörden haben dann eine eigene Beweisaufnahme durchgeführt: Dies war der Prozess vor Pilatus. Historisch belegt ist, dass die römischen Richter keineswegs nur Handlanger des Synhedrions waren, sondern zu eigenen Urteilen kamen. Hintergrund: Es gab zur Zeit Jesu mehrere Fälle von prophetisch beseelten Predigern in Jerusalem; die Zeiten waren religiös aufgeladen. Einer dieser Jerusalemer Propheten ist unter dem Prokurator Albinus, einem Nachfolger von Pilatus, nach einer Geißelung wegen erwiesener „Narrheit“freigelassen worden (nachzulesen im Internet bei Christoph Paulus, Der Prozess Jesu aus römisch-rechtlicher Perspektive). Das ist beachtlich und spricht für die Rechtskultur Roms: Der eigenen Beweisaufnahme folgte ein eigenes Urteil; die römischen Prozesse waren bei aller Grausamkeit der Hinrichtungsmethoden keine Schein- und Schauprozesse.
Im Falle Jesu kam das römische Gericht in Jerusalem zur gleichen Einschätzung wie das Synhedrion. Jesus war gefährlich, weil charismatisch, eben nicht „der Narrheit verfallen“– heute würde man sagen: Er war voll schuldfähig. Rom hatte in Jesu Fall keinen Grund zu zögern oder Milde walten zu lassen.
Der römische Soldat spiegelt all das in seiner gelassenen, ja gelangweilten Haltung wider. Er beachtet das Drama zu seiner Linken gar nicht; er schaut direkt auf den Betrachter. Niemand schaut in diesem Bild jemanden an: Maria hat Hände und Augen zum Himmel gerichtet, Jesus blickt unter der Last und den Schmerzen seines misshandelten Körpers ins Leere; alle drei Figuren stehen allein – Gott ist in diesem Bild dem Geschehen fern und lediglich im Gebet Marias gegenwärtig, als Hoffnung in einer trost- und ausweglosen Situation.
Der Römer konnte gelassen bleiben. Denn was sah er? Den Alltag der römischen Justiz. Er sah einen Todgeweihten, der nach Recht und Gesetz verurteilt war und nun die üblichen Konsequenzen zu tragen hatte. Das Ganze diente der Aufrechterhaltung der Ordnung Roms, was wiederum ihm zugutekam: Ein Jerusalem ohne Unruhestifter war ein sicheres Jerusalem, gut für Soldaten wie ihn.
In der Gelassenheit, die seine auf den Speer gestützte Haltung spiegelt, spiegelt sich die Selbstgewissheit Roms, Herrscher der Welt zu sein. Zugleich offenbart sich die Heilsgeschichte, die Christen in dieser Szene sehen, als Geheimnis unter der Oberfläche der Historie: Jesu Weg ans Kreuz endet aus christlicher Sicht nicht mit dem Tod, sondern in der Erlösung der Welt.