Rheinische Post Krefeld Kempen
Autismus – ein Leben mit festen Strukturen
Sie sehen, hören, riechen, fühlen anders und verarbeiten alle Eindrücke auf andere Art: Menschen mit der Diagnose Autismus.
KREFELD Matz ist ganz in seinem Element, wenn er mit der gelben Schubkarre hantiert. „Er liebt es, Sachen hin- und herzufahren“, sagt Nadine von Mierlo. Sie ist seit 2021 Einrichtungsleiterin im Haus am Berg der Lebenshilfe Krefeld und kennt den Jungen mit Diagnose Autismus von Anfang an. 2016 ist Matz in das Haus am Berg eingezogen und Nadine von Mierlo hat ihren Dienst hier begonnen. Sie sehen, hören, riechen, fühlen anders und verarbeiten alle Eindrücke auf andere Art, so eine Expertin. Rund 800.000 Menschen leben in Deutschland mit Autismus. Das entspricht einem Prozent der Bevölkerung.
Die Generation der Kinder und Jugendlichen mit Autismus, die zuvor hier in der Seidenstadt gelebt hat, ist erwachsen geworden und in andere Einrichtungen der Lebenshilfe Krefeld umgezogen. Zum Beispiel in das 2015 errichtete Haus Alte Landstraße, das sich genau wie dieses Wohnhaus um Menschen mit Diagnose Autismus kümmert.
Die Herausforderung des Neuen reizte die Heilerziehungspflegerin Nadine von Mierlo: „Ich habe in der Gruppe Meer angefangen und diese damals noch mit sechs Bewohnern aufgebaut“, sagt sie. In die Gruppe Meer gehören aktuell vier Bewohner, genauso viele hat auch die Gruppe Strand. Dann gibt es noch ein separates Haus auf dem Gelände oben auf dem Hülser Berg: Im „Leuchtturm“wohnen zwei Jungs. Alle sind zwischen 13 und 18 Jahre alt.
Matz ist 13 Jahre. Er fährt gerne das Altpapier zum Container. Aber auch die Arbeit im Garten mit seiner Schubkarre ist – nicht nur im beginnenden Frühling – ein fester Programmpunkt in seinem Tagesablauf. Denn das ist für Menschen mit Autismus sehr wichtig: klare Ansagen, feste Strukturen. Wer im Haus am Berg lebt, hat frühkindlichen Autismus. Das ist zu unterscheiden vom Asperger-Syndrom, das meist mit einer Inselbegabung einhergeht und auch Kommunikation mit Sprache möglich macht. Hier funktioniert die Verständigung mit Bildkarten oder Objekten. Es wird – genauso wie im Haus Alte Landstraße – mit dem pädagogischen Modell „Teacch“gearbeitet. „Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children“– übersetzt bedeutet dies: „Behandlung und pädagogische Förderung autistischer und in ähnlicher Weise kommunikationsbehinderter Kinder“. Wenn eine Bewohnerin auf die Karte mit einem Glas deutet, erkennt der Betreuer, dass sie Durst hat und etwas trinken möchte. Matz zeigt seinen Durst mit einem „Magic Cup“. Aus diesem Zauberbecher kann er trinken, ohne dass ihm der Saft das Kinn hinunterläuft, denn er kann daran saugen. Der Zauberbecher kann im Bus auch mal runterfallen, ohne dass etwas ausläuft.
„Matz hat gelernt, wofür der Becher gut ist und wie er funktioniert“, sagt Nadine von Mierlo, „das ist ein großer Fortschritt, so kann er sein Bedürfnis äußern.“Wenn sein Betreuer Matz den Rucksack zeigt, bedeutet das Schule, in diesem Fall die Friedrich-von-BodelschwinghSchule in Gartenstadt. Schlafanzug
bedeutet: Matz muss ins Badezimmer und sich zur Nacht fertig machen. Auch das hat er gelernt: Waschen und Zähneputzen gehören zur Körperpflege – und wie man das macht. Der fröhliche Junge
hat Verständnis für Objekte entwickelt. Seinen leuchtend blauen Helm trägt er, damit er sich beim Hinfallen den Kopf nicht verletzt. Er hat inzwischen auch gelernt, auf seinem Therapie-Dreirad zu treten und muss nicht mehr geschoben werden.
„Mit unserer Tagesgestaltung machen wir es möglich, den Bewohnern ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen“, sagt Nadine von Mierlo sehr zufrieden. Sie ist überzeugt: „Ich glaube, dass alles möglich ist, wenn der Rahmen stimmt.“Das sieht man an den Fortschritten der Gruppen, die sie als Gruppenleiterin miterlebt und mitgestaltet hat und seit zweieinhalb Jahren auch an der Entwicklung der Einrichtung mit Nadine von Mierlo als Leiterin des Hauses.
„Wir sind bunt, spontan und flexibel“, so hat es eine Mitarbeiterin formuliert. Nadine von Mierlo über ihre Kolleginnen und Kollegen: „In dem Rahmen, der durch die Bedürfnisse unserer Bewohner vorgegeben ist, soll jeder das machen, was er am besten kann.“Also begleiten die einen – die Mutigen – Klettern und Radfahren und Ausflüge; Backen und Kochen und Kreativität begleiten die anderen. „Mit diesem Gestaltungsspielraum haben wir ein richtig schönes Team“, sagt sie, „es ist ein dankbarer und schöner Job!“
Der Elternförderverein „Die Insel“hat die Gruppen mit den maritimen Bezeichnungen getauft. „Die Insel“unterstützt das Haus immer wieder mit schönen Aktionen und mit der Finanzierung einer Ferienaushilfe für den Höhepunkt des Jahres. „Wir fahren jedes Jahr nach Renesse in Urlaub“, sagt Nadine von Mierlo, „und das wird jetzt schon fleißig geplant.“