Rheinische Post Krefeld Kempen
Als der Kellermeister durch Kempen karrte
Eine kleine Stadt in den 1950ern. Wenig Autos, aber ein Weinkarren, der Fässer vom Bahnhof rollt. Ein Rückblick.
KEMPEN Dazumal, um 1950 – da war Kempen noch eine beschauliche Kleinstadt, mit wenig Autoverkehr. Ab und zu rumpelte ein Pferdefuhrwerk durchs Kuhtor. Eine „Buurekaar“– das war die hohe, zweirädrige Karre, mit der ein Landwirt seine Produkte zum Markt fuhr. Oder eine „Seekkaar“– da schaffte jemand auf einer Schubkarre eine Tonne mit Jauche in den Nutzgarten am Ring, um den Boden zu düngen.
In den Wohnungen hielt man penibel auf Reinlichkeit. Samstags wurde der Dielenfußboden in der „Guten Stube“mit Bohnerwachs auf Hochglanz gebracht. Wo man das bekam? An der Kuhstraße 16. Da betrieb Carl Hubbertz, verstorben 1989, eine Gebrauchswaren- und Lebensmittelhandlung mit einer Kaffeerösterei, hervorgegangen aus dem Kolonialwarenladen seines Vaters Anton. Geöffnet war das Geschäft von morgens um sieben bis abends um acht, also 13 Stunden lang.
Was da verkauft wurde? Lebensmittel aller Art, Natur belassen. Zum Beispiel „Muhrekruut“– Rübensirup, aus dem Saft der Zuckerrübe durch Verdampfen gewonnen. Das Kraut galt als die Nahrung ärmerer Leute. Für die Wohlhabenderen lagerte Hubbertz Wein. Süffige Sorten aus allen deutschen Anbaugebieten. Die befanden sich in der HubbertzKellerei, vom Ring aus neben dem Kuhtor links, neben der heutigen Parkplatz-Einfahrt. Das edle Nass wurde im Keller in Flaschen abgefüllt und vom Kellermeister in den Laden gebracht. Jakob Kreckler hieß der Meister der Fässer. Er holte sie auf einem kleinen Karren vom Bahnhof ab und rollte sie zum WeinGewölbe.
Das traditionsreiche HubbertzGeschäft ist mittlerweile verschwunden. In dem früheren Kolonialwarenladen ist heute die Firma Herda
Wohnaccessoires untergebracht. Auch Jakob Kreckler, der 1878 geboren wurde und 1963 verstarb, lebt nur noch in den Erinnerungen seiner Nachkommen. Aber das Transport-Gefährt existiert noch und wird im Kempener Kramer-Museum aufbewahrt. Und ist heute noch in der Kreckler-Familie das Thema zahlreicher Erzählungen. Kellermeister Kreckler nutzte den Karren ja auch für andere Zwecke. Zum Beispiel, um einer hilfsbedürftigen Nachbarin beim Umzug beizustehen.
Episoden dieser Art haben jetzt in geselliger Runde Jakob Krecklers
Enkelkinder ausgetauscht. „Ich war gerade drei Jahre alt, da bin ich bei einem solchen Umzug von der Karre auf die Neustraße gestürzt, und die hatte damals noch Kopfsteinpflaster“, erinnert sich schmunzelnd Theo Kreckler (80) und fährt fort: „Ich weiß noch, wie der Opa ein riesiges Küchenmesser hervorzog, und ich kriegte schon Angst. Aber er wollte nur meine Wunde kühlen.“
„Er war überhaupt kinderfreundlich“, stimmt Enkelin Eva zu. „Wenn wir mit der Bahn nach Utrecht fuhren, um die holländische Oma zu besuchen, sang er mit mir Lieder, denn er war im Kempener Männergesangverein. Ich hab’s noch im Ohr: Im Wald, da sind die Räuber… Opa kam nämlich aus der Kölner Ecke und war Karnevalsjeck.“„Dass er leidenschaftlich gerne sang, kann ich bestätigen“, fällt Enkel Jürgen Jakob (82) ein und zieht ein Foto hervor, auf dem Kempens Männergesangverein 1954 bei einem Konzert in der Propsteikirche abgebildet ist.
So steigen die Erinnerungen auf. Zum Beispiel daran, dass Großvater Kreckler eines Tages seine drei Enkel auf der Weinkarre zum Holzsägen zu seinem Garten an der Vorster Straße rollte. Denn geheizt und gekocht wurde damals noch mit Holz. „Aber als der Baumstamm auf dem Bock lag“, erinnert sich Enkel Theo, „hatten wir drei Bengels zum Sägen er durch die Stadt – fast lautlos. Denn sein Wagen ist schon gummibereift, und nur das Klappern von Rosas Hufen tönt von den stillen Hauswänden zurück.
Gaslaterne Abends macht der „Laterne Pitt“mit seinem Fahrrad die Runde, um jede einzelne Gaslaterne mit langem Stab ins rechte Licht zu setzen. Das ist heute unvorstellbar – ebenso wie die Reinigung der städtischen Unterwelt.
Pratschkarre Die besorgt Herr Wehlings. Mit seiner „Pratschkarre“fährt er von Gully zu Gully, die schwarze Stute Flora vorgespannt, um dem Morast, mit Blättern gemischt, mit Kettengerassel und Hebebaum die fällige Abfuhr zu bereiten, damit er nicht in die Kanäle gerät. Knarrend schwebt der lange, schwarze Eimer nach oben und entlädt schwappend undefinierbaren Brei in das Kärrchen.
Mode Dafür geht‘s woanders hochelegant zu: Ebenfalls auf der Judenstraße zeigt das Modegeschäft von Guste Hubberten den letzten Schrei à la Heinz Oestergard. Eine Welt, die uns heute so fremd vorkommt wie eine Puppenstube aus der Biedermeierzeit – aber auch so heimelig.
keinen Bock. Wir haben uns so ungeschickt angestellt, dass Opa die Faxen bald dicke hatte. ‚Sch…blagen! Dann maak ech den Arbeet alleen!’“, wetterte er auf Kempsch Platt.
Überhaupt nahm der Kellermeister Jakob Kreckler alles, was ihm wichtig erschien, sehr ernst. „Zu Weihnachten“, erzählt Enkelin Lisi, „musste jedes von uns Enkelkindern vor der Bescherung ein Gedicht aufsagen. Oder ein Lied singen. Das wurde vorher stramm geübt. Bevor in der Familie gefeiert wurde, warteten wir in der Küche. Wenn es soweit war, kam Tante Ria durch die Flügeltür zu uns herein. Sie zeigte auf das offen stehende Wohnzimmerfenster und sagte: ‚Das Christkind ist gerade weggeflogen! Ihr dürft reinkommen!’ Und das Fest begann.“
„Eigentlich eine schöne Zeit!“, blicken die Enkelkinder des Kempener Kellermeisters zurück. „Im Vergleich zu heute sehr unkompliziert. Die Menschen waren bescheiden und – im Gegensatz zu heute – großenteils zufrieden.“„In der Schule wurde viel geprügelt“, blickt Jürgen Jakob Kreckler zurück. „Aber Familie und Nachbarschaft hielten eng zusammen“, ergänzt Lisi. „Man traf sich zu Singabenden und feierte häufig Feste. Da brauchte man keinen großen Anlass.“