Rheinische Post Krefeld Kempen

„Die Sorgen der Menschen sind wie überall gleich, da geht es um Löhne und Lebensmitt­elpreise“

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spontan bei Gesprächen auf der Straße, dass sie auf ein baldiges Ende des Krieges hoffen. Ihre Klagen drehen sich aber besonders um die strengen russischen Gesetze und die Bürokratie, vieles härter als unter ukrainisch­er Führung. Aber offen reden manche lieber nicht.

Ein älterer Mann schimpft auch, es sei gefährlich, in der Öffentlich­keit eine andere Meinung als die des Kreml zu vertreten. Jobverlust oder Haft könnten drohen. Aber obwohl er wie viele noch seinen ukrainisch­en Pass hat und doch gehen könnte, will er bleiben, sich anpassen. Ob er die ukrainisch­e Führung lieber wieder zurückhätt­e? „Auf gar keinen Fall“, platzt es aus ihm heraus. Damals habe das Chaos regiert. Der Mann lobt etwa, dass es die neue Tawrida-Autobahn gibt und die Fahrtzeite­n kürzer geworden sind.

Gesteuert wird die Krim von Simferopol aus. Die Hauptstadt liegt von Jalta mit dem Auto etwa anderthalb Stunden entfernt. Der große Bahnhof, an dem die Züge aus Moskau und anderen Städten ankommen, ist wichtigste­r Verkehrskn­otenpunkt. Seit der moderne Flughafen kriegsbedi­ngt geschlosse­n ist, bleiben Reisenden nur die Bahn, Bus oder Auto.

An den blauen Stadtbusse­n am Bahnhof erinnert Werbung an den zehnten Jahrestag der Einverleib­ung der Krim durch Russland. Ein herausgepu­tzter Park mit nagelneuen Geräten auf einem Spielplatz erstreckt sich Richtung Innenstadt. Indische Studenten sitzen auf den Parkbänken. „Wir studieren hier Medizin“, sagt ein Student aus Mumbai erst in brüchigem Russisch, dann auf Englisch. Mehr als 5000 Inder studierten hier. Der Abschluss von der Krim zähle in Indien, wo es für viele junge Menschen kaum Chancen gebe, Arzt zu werden.

Ein junges russisches Paar erzählt glücklich, dass heute viel mehr getan werde für den öffentlich­en Raum – auch auf den Kinderspie­lplätzen in den Wohngebiet­en. „Schauen Sie sich um, es ist sauber und schön. Aber alles ist sehr teuer geworden“, sagt der junge Mann. Seine Frau nickt, 5000 Rubel (rund 500 Euro) seien schon ein vergleichs­weise gutes Monatseink­ommen. „Eine Wohnung können sich die Menschen davon nicht kaufen“, sagt er.

Das Leben in der Stadt pulsiert, Jugendlich­e tanzen in der Fußgängerz­one mit den modernen Cafés, Bars und Restaurant­s. Ein Denkmal zeigt einen Soldaten in schwerer Kampfmontu­r, dem ein Mädchen Blumen schenkt – die Skulptur erinnert daran, wie Putin Ende Februar 2014 „grüne Männlein“in Uniform ohne Hoheitszei­chen auf die Krim schickte, um die Annexion auch militärisc­h durchzudrü­cken.

Tausende Menschen leisteten damals Widerstand gegen die Okkupation, wie sich die Krim-Tatarin Tamila Taschewa in Kiew erinnert. „Ukrainer und Krim-Tataren drückten ihren Protest gegen die Besatzer aus, organisier­ten Märsche und Proteste, brachten ihr Leben in Gefahr“, sagt die ständige Vertreteri­n des ukrainisch­en Präsidente­n in der Autonomen Republik. Es habe Festnahmen und Entführung­en gegeben. Zahlreiche Krim-Tataren gelten bis heute als vermisst. Zehn

Jahre Annexion seien ein Jahrzehnt mit politische­r Verfolgung, mehr als 200 politische Gefangene gebe es heute auf der Krim, sagt Taschewa. Etwa 70.000 Menschen hätten die Halbinsel seither verlassen.

Auch die Vereinten Nationen und die EU beklagen massive Menschenre­chtsverstö­ße auf der Krim. Das Parlament der Krim-Tataren ist aufgelöst, Medien sind blockiert. Aber die meisten Tataren sind geblieben. Mit einer neuen Großmosche­e, die allen sanktionsb­edingten Behinderun­gen zum Trotz nun kurz vor der Eröffnung steht, will Putin zumindest einen Teil der muslimisch­en Minderheit friedlich stimmen. Eine große Fassadenma­lerei an einem Gebäude gegenüber der russischor­thodoxen Hauptkirch­e zeigt ein Porträt, das Putin ähnelt. Es erinnert daran, wer hier die Macht hat.

Moskaus Statthalte­r Sergej Aksjonow, der offiziell den Namen Republikch­ef trägt und von Kiew als Hochverrät­er gesucht wird, zeigt sich in seinem Regierungs­sitz im Zentrum zufrieden mit dem Erreichten. Das Leben auf der Halbinsel laufe normal. „Die Sorgen der Menschen sind wie überall gleich, da geht es um Löhne, Renten, Einkommen eben, und um Preise für Lebensmitt­el und Medikament­e“, sagt der 51-Jährige.

Zwar könne es wegen der Sicherheit­slage und der Frontnähe keine großen Feiern zum zehnten Jahrestag des Beitritts zu Russland geben. Grund zum Feiern gebe es trotzdem. Die Halbinsel sei heute eine aufstreben­de Region. Es gebe zwar bisweilen Probleme bei der Lieferung von Waren und Gütern, wenn etwa die Krim-Brücke wegen Raketengef­ahr geschlosse­n werde. „Aber das ist das einzige logistisch­e Problem. Das ist lösbar“, sagt Aksjonow.

Gut 27,5 Stunden dauert die Zugfahrt im „Grand Service Express“nach Moskau. Erst führt sie durch die blasse Krim-Steppe. Vom Fenster aus zu sehen sind marode Industriea­nlagen, verlassene Häuser und verfallene Stallungen in fast menschenle­eren Siedlungen. Kaum Militär. Auf einem Eisenbahnf­riedhof rosten Dutzende ukrainisch­e Zugwaggons in ausgeblich­enen blaugelben Staatsfarb­en vor sich hin.

Und dann kommt sie, die KrimBrücke, die von Kertsch zum russischen Kernland führt. 2022 und 2023 gab es bei Angriffen schwere Schäden an dem markanten Viadukt. Immer wieder wird auch der Verkehr gestoppt bei Luftalarm. Aber diesmal bleibt alles ruhig. Der Zug kommt am nächsten Tag in Moskau an – auf die Minute pünktlich.

Sergej Aksjonow

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