Rheinische Post Krefeld Kempen
Kirmesjubiläum: vergnüglicher Rückblick
Wenn Albert Ritter erzählt, hört man gebannt zu. Der Rock ’n’ Roll wurde in Deutschland über die Kirmes bekannt, das Kino groß, und die Raupe war der Ort, wo die Jugend zehn Sekunden Zeit zum Küssen hatte – länger war nicht erlaubt.
KREFELD Auf Neudeutsch würde man sagen: Die Kirmes ist ein Innovationstreiber. „Pizza und Popcorn sind in Deutschland über die Kirmes bekannt geworden“, berichtet Albert Ritter, Präsident des Deutschen Schaustellerbundes (DSB), „die Amerikaner haben Popcorn zu uns gebracht, aber verbreitet wurde es über die Kirmes. Oft genug haben dann die Standort-Gastronomen gesehen, dass etwas funktioniert, und nachgezogen.“Ein Beispiel von vielen. Seit 100 Jahren gibt es die Kirmes auf dem Sprödentalplatz – und als sie aus der Stadt nach „draußen“wanderte, war auch das Innovationen geschuldet: Die Karusselle wurden immer größer.
Und moderner. Als die ersten Karusselle von Pferde- auf Dampfmaschinenbetrieb umstellten, sorgte das zum Teil für Panik beim Publikum. Auch kulturgeschichtlich war die Kirmes Treiber neuer Technik. „Das Kino ist auf der Kirmes erwachsen geworden“, sagt Ritter. Denn es waren Schausteller, die die ersten bewegten Bilder einem Massenpublikum präsentierten. Berühmt sind die Gebrüder Skladanowsky, die Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin mit Filmen wie „Das Boxende Känguru“(zu sehen bei Wikipedia im Eintrag zu Max Skladanowsky) unfassbaren Erfolg hatten, sodass Schausteller Filmvorführapparate und die Skladanowsky-Filme für ihr Kirmesgeschäft kauften. Es war so erfolgreich, das später die ersten festen Kinosäle gegründet wurden. Auch Ritters Eltern hatten als Schausteller in den 50-er und 60-er Jahren Kinovorführungen im Programm.
Auch Rock ’n’ Roll ist auf der Kirmes bekannt geworden, bevorzugt an der Raupe. Das Fahrgeschäft war bekannt dafür, die neuesten Musiktrends zu spielen. Dazu kam das Verdeck der Raupe, das den Fahrgästen für zehn Sekunden Alleinsein bescherte – genug für einen raschen Kuss. „Das Verdeck durfte nicht länger geschlossen sein“, erläutert Ritter, „bis in die 70-er Jahre war die Dauer von zehn Sekunden gesetzlich vorgeschrieben, um keinen ,unsittlichen Umtrieben Vorschub‘ zu leisten, wie es hieß.“
Innovationstreiber war die Kirmes auch technisch. „Nachhaltigkeit war bei uns immer wichtig; wir waren die Ersten, die komplett auf LED-Lampen umgestellt haben“, sagt Ritter. Strom sparen war wichtig, weil die Strompreise für Schausteller drei- bis viermal höher sind als für stehendes Gewerbe.
Nach wie vor sind Schausteller viel unterwegs. Macht das den Beruf eher schwer oder eher schön? „Wie so oft liegen Fluch und Segen eng beieinander“, antwortet Ritter. Die Familien seien zu 90 Prozent der Zeit beieinander. Schwieriger wird es, wenn die Kinder in die Schule kommen. „Teils bleiben sie dann zu Hause und werden von den Großeltern betreut, damit sie zur Schule gehen; teils bleiben sie auch bei den Eltern und gehen auf die Reiseschule.“Im Prinzip können die Kinder in jede Schule gehen. In NRW gibt es das Modell der „Stammschulen“, also Schulen mit Lehrern, die besonders auf Schaustellerkinder eingehen. Ein „elektronisches Schultagebuch“dokumentiert den Lernstand der Kinder, sodass die Lehrer
den Unterricht schnell auf die neuen Schüler einstellen können.
Schausteller ist kein Lehrberuf. „Die meisten werden hineingeboren; es gibt kaum eine Familie, die nicht in fünfter, sechster Generation Schausteller ist“, sagt Ritter. Deutlich komfortabler sind die Wohnwagen geworden, in denen die Schausteller leben, wenn sie unterwegs sind. „Das ist wie bei allen Wohnwagen“, sagt Ritter. In der Regel haben die Schausteller Slight-out-Wohnmobile, bei denen man Elemente ausfahren kann, sodass im Innern mehr Platz ist. Und natürlich hat jede Familie
Gottesdienst: Zum 100-jährigen Bestehen der Kirmes auf dem Sprödentalplatz wird es einen Gottesdienst mit Weihbischof Karl Borsch und Sascha Ellinghaus, Leiter der katholischen Circus- und Schaustellerseelsorge in Deutschland, geben. Termin: Sonntag, 28. April, 11 Uhr, Autoscooter der Familie Loosen.
neben dem fahrenden auch einen festen Wohnsitz.
Ritter betreibt einen Ausschank. Auch die Gastronomie ist mit der Zeit gegangen. „Wenn ich in den 70-er Jahren jemandem ein alkoholfreies Bier angeboten hätte, hätte der mir was erzählt“, berichtet Ritter, „normal war das Herrengedeck, also ein Pils, ein Schnaps.“Heute gehört die ganze Breite aus alkoholischen und nicht-alkoholischen Getränken zum Angebot, bei strengem Reglement. „Wer schwankt, bekommt nichts mehr“, sagt Ritter.
Eng sind die Verbindungen zwischen Kirche und Schaustellern. „Kirmes kommt von Kirchmesse“, sagt Ritter, historisch war die Kirmes oder Kirchweih als Fest zur Einweihung einer Kirche an kirchliches Leben gekoppelt. „Ostern, Pfingsten, Erntedank, Weihnachten – fast alle Kirmestermine hängen am katholischen Festkalender.“So wird das Sprödentalplatz-Jubiläum auch mit einem Gottesdienst gefeiert, zu dem Weihbischof Karl Borsch ebenso erwartet wird wie Sascha Ellinghaus, Leiter der katholischen Circus- und Schaustellerseelsorge in Deutschland (28. April, 11 Uhr, Autoscooter der Familie Loosen).
Die Schausteller bildeten schon immer eine verschworene Gemeinschaft – so verschworen, dass die Nazis auch die Schaustellerverbände gleichgeschaltet hatten, berichtet Ritter. „Viele Verbände haben ihre Traditionsfahnen versteckt und gerettet“, berichtet Ritter. Die Nazis sind weg, die Fahnen wieder da, die Kirmes sowieso – Lebenslust und Gemeinschaft haben Bestand: ein schönes Kapitel aus der 100-jährigen Geschichte der Sprödentalkirmes.