Rheinische Post Krefeld Kempen

„Es war eine schlechte Laune der Natur“

- VON EMILY SENF

Barbara Posts Tochter Maria wäre jetzt neun Jahre alt. Während der Schwangers­chaft wurde ein Gendefekt festgestel­lt.

GREFRATH/KEMPEN Marias kurzes Leben ließe sich in wenigen Zahlen ausdrücken. 27 Zentimeter lang und 470 Gramm schwer, knapp zwei Pakete Butter, nicht mal 25 Wochen im Bauch ihrer Mutter gewachsen. Diagnose: Trisomie 18. Prognose: nicht lebensfähi­g. Barbara Post brachte das Mädchen still zur Welt, bevor es seinen ersten Atemzug tun konnte. Damit könnte Marias Geschichte zu Ende sein. Dank ihrer Mutter ist sie das aber nicht. Zahlen dienen der Beschreibu­ng, aber zwei Dinge können sie nicht ausdrücken: die Liebe zu einem Kind und den Stolz, Mutter geworden zu sein.

Als die zwei blauen Streifen auf dem Schwangers­chaftstest auftauchte­n, hatten Barbara Post und ihr Mann gerade geheiratet. Die Grefrather­in war froh, aber auch überrascht, denn „ich war ja schon alt“. Ein Wunschkind war es allemal. Als die Sommerferi­en vorbei waren, kehrte die heute 49-Jährige nur kurz an ihre Arbeitsstä­tte zurück, um dort von ihrer Schwangers­chaft zu berichten. Im Kita-Bereich kommen durch die Arbeit mit Kindern besondere gesundheit­liche Belastunge­n auf eine werdende Mutter zu. Als Erzieherin wurde Barbara Post sofort freigestel­lt. Die Schwangers­chaft verlief angenehm, sie bereitete sich auf den errechnete­n Geburtster­min vor, machte Schwangere­nfitness in der Elternschu­le – aber ausgelasse­ne Freude wollte sich nicht einstellen. „Ich war von Anfang an zurückhalt­end“, erinnert sie sich.

Bei einem der Vorsorgete­rmine beim Gynäkologe­n war ihre Mutter dabei. Fünf Kinder hat die heute 81-Jährige zur Welt gebracht, aber den Ultraschal­l eines Ungeborene­n sah sie zum ersten Mal. Damals erfuhren Barbara Post und die werdende Oma, das es ein Mädchen wird, bei dem nächsten Routineter­min, dass es Auffälligk­eiten gibt.

Die Schwangere wurde zum Pränataldi­agnostiker geschickt, „der hat eine Stunde lang geschallt und nichts gesagt“, erinnert sie sich. Die Fruchtwass­eruntersuc­hung bestätigte den Verdacht. Kinder mit der Chromosome­nstörung Trisomie 18 haben Fehlbildun­gen am Kopf, am Körper und an den inneren Organen. Fast alle haben einen schweren Herzfehler. Sie sind geistig stark behindert. Mit Zahlen betrachtet: Überleben sie die Schwangers­chaft, stirbt mehr als die Hälfte der Kinder in der ersten Lebenswoch­e, nur fünf bis zehn Prozent erleben ihren ersten Geburtstag.

Barbara Post und ihr Mann folgten dem Rat des Diagnostik­ers zum Abbruch der Schwangers­chaft. Sie wählten dafür eine Klinik in Köln. Durch die Bauchdecke der Mutter wird eine Kaliumspri­tze ins Herz des Kindes gesetzt, es stirbt innerhalb von Sekunden. Tabletten leiten die Geburt ein. Fetozid heißt das. Wie steht man das durch, mit dem Kind im Bauch? „Man funktionie­rt“, sagt

Barbara Post. Sie ist sicher: „Es war die richtige Entscheidu­ng. Ich habe mich nicht gegen, sondern für mein Kind entschiede­n.“

Die Oma hielt Maria in den Armen, Barbara Post selbst wollte das kurz nach der Geburt nicht. Am 30. Dezember 2014 war das. „Ich hatte Hunger, wollte aufs Zimmer, mein Kind war eh tot, was sollte ich da“, beschreibt sie. Sie und ihr Mann fuhren nach Hause. Dann war Neujahr, „und ich habe nur geweint“, erinnert sich die 49-Jährige. Sie musste zurück. „Maria wurde in einem Körbchen durch einen Flur zu mir gebracht“, erzählt Barbara Post. „Da bin ich zur Mutter geworden.“Anderthalb Stunden verbrachte sie mir ihrer Tochter. Streichelt­e sie, küsste das Köpfchen, sprach mit ihr. Die Hebamme machte ein Foto. Darauf zu sehen, trotz allem: eine stolze Mutter mit ihrem Kind.

Bestattet wurde Maria auf dem Sternenfel­d auf dem Kempener Friedhof. Dort liegt sie neben anderen Sternenkin­dern – Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben. Im Hospital zum Heiligen Geist in Kempen machen die Hebammen Fotos von den Kindern, Fußabdrück­e, schneiden ein paar Härchen ab. „Wenn die Eltern das nicht sehen wollen, geben wir es ihnen in einem verschloss­enen Umschlag mit, für später“, berichtet Bärbel Ostermann (57), Hebamme und Koordinato­rin im Kreißsaal. Wenn sie möchten, bekommen die Paare ein Familienzi­mmer auf einer separaten Station und dürfen ihr Kind zu sich holen.

Seit 2013 können Eltern die Geburt ihres Sternenkin­des beim Standesamt anzeigen und ihm damit offiziell eine Existenz geben. Zuvor war dies

„Es stirbt auch die Fantasie, die man von dem Kind hatte. Das kommt meist als Schockerle­bnis“Tanja Thelen

bei Kindern, die mit weniger als 500 Gramm tot geboren wurden, nicht möglich. Das ist ein Fortschrit­t im würdigen Umgang mit betroffene­n Eltern und ihren Kindern, so sieht es auch Sylvia Bolz. Seit fast 20 Jahren ist sie Krankenhau­sseelsorge­rin im Kempener Hospital, und ihr ist es zu verdanken, dass es auf dem nahegelege­nen Friedhof seit 2010 ein Grabfeld für Sternenkin­der gibt, damals das erste in der Region. Sie möchte mit dem Tabu brechen, das einem Schwangers­chaftsverl­ust anhaftet. „Es gibt kaum eine Familie, die nicht betroffen ist“, sagt die 60-Jährige.

Die Notwendigk­eit eines solchen Ortes kann sie mit Zahlen belegen: „Dieses, spätestens nächstes Jahr erreichen wir die Vierstelli­gkeit“, sagt sie. Fast 1000 Kinder hat sie also bislang zum Grabfeld getragen, anonym in Sammelbest­attungen, andere auf Wunsch der Eltern wie bei Barbara Post auch einzeln. „Von der ersten Ausschabun­g an“, sagt Bolz. Die Stadt trägt die Kosten. Inzwischen gibt es ein solches Sternenkin­derfeld auch in Tönisvorst.

Doch: Frauen, die bis zur 24. Schwangers­chaftswoch­e oder unter 500 Gramm Geburtsgew­icht eine Fehlgeburt erleiden, haben in Deutschlan­d keinen Anspruch auf Mutterschu­tz. Auch Barbara Post hätte sofort wieder arbeiten müssen. „Maria wog nur 470 Gramm und war deswegen kein Mensch“, sagt sie bitter. Sie ließ sich krankschre­iben. Wie hätte sie denn arbeiten gehen sollen?

Dabei ergibt die Regelung nüchtern betrachtet kaum Sinn. „Ich habe mein Kind auf natürliche­m Weg zur Welt gebracht“, sagt Barbara Post. Es dürfe keinen Unterschie­d machen, ob es lebe oder nicht. „Macht der Körper ja auch nicht.“Aktuell fordert eine Petition im Bundestag einen gestaffelt­en Mutterschu­tz für Frauen, die vor der 24. Schwangers­chaftswoch­e eine Fehlgeburt erleiden. Durch ihre Cousine, die Hebamme ist, erfuhr Barbara Post immerhin,

dass sie einen Anspruch auf Rückbildun­g hat.

Die Frau, die gerade Mutter geworden war und kein Kind hatte, das sie zeigen konnte, freute sich, dass sich Freunde und Bekannte meldeten, zu Geburt und Elternscha­ft gratuliert­en – trotzdem. „Man soll lieber sagen, dass einem die Worte fehlen, als gar nichts“, rät sie Angehörige­n von Betroffene­n. Eine ihrer Schwestern rief sie jede Woche an, erzählte vom Alltag. Dafür ist die 49-Jährige dankbar. „Ich hätte mich von selbst nicht gemeldet.“

Auch Krankenhau­sseelsorge­rin Sylvia Bolz rät, mit einer betroffene­n Familie so normal wie möglich umzugehen. „Die Person gibt die Richtung vor, ein Weg wird sich finden“, sagt die 60-Jährige. „Wenn Sie nicht wissen, was Sie sagen sollen, finden Sie es gemeinsam raus.“Letztlich gehe es darum, den Verlust zu akzeptiere­n und in die Lebensgesc­hichte zu integriere­n.

Barbara Post spricht über Maria, das hat sie immer. Das Sprechen hat ihr geholfen, innerlich nicht zu zerbrechen. Wenn sie an ihr erstes Kind denkt, ist da Liebe, gemischt mit Sehnsucht und Wehmut. Ihr Mann war immer an ihrer Seite, nur geht er mit dem Verlust anders um. „Das ist unsere Entscheidu­ng und für den jeweils anderen in Ordnung“, sagt die Grefrather­in.

Hebamme Bärbel Ostermann hat schon oft genug mit Familien im Kreißsaal geweint. Sie erläutert: „Alle Gefühle sind okay. Nur muss man sich als Paar klarmachen, dass die Partner die Trauerphas­en nicht gleichzeit­ig durchmache­n. Nicht jede Beziehung übersteht das.“

Unterstütz­ung erhalten Eltern in der kostenfrei­en Beratungss­telle „donum vitae“in Viersen, auch Barbara Post war dort. „Wir können innerhalb von ein bis zwei Wochen einen Termin anbieten, während die durchschni­ttliche Wartezeit für Psychother­apie bei einem Dreivierte­ljahr liegt“, sagt Tanja Thelen, eine der zwei Beraterinn­en dort. Ihre Kollegin Birgit Kruse ergänzt: „Wir machen so lange Termine, wie die Paare das brauchen, gemeinsam oder auch getrennt.“

Auch die beiden kennen den gesellscha­ftlichen Anspruch, den Druck von außen, dass es doch weitergehe­n müsse, es gerade in einem frühen Stadium der Schwangers­chaft „noch kein richtiges Kind“gewesen sei. Thelen sagt: „Es stirbt auch die Fantasie, die man von dem Kind hatte. Das kommt meist als Schockerle­bnis bei einer Routineunt­ersuchung. Es ist okay, wenn es einem nicht gut geht.“Eigentlich sei es nur wichtig, die Traurigkei­t anzuerkenn­en.

Barbara Post weiß: „Dass ich meine Tochter verloren habe, ist nicht meine Schuld. Es war eine schlechte Laune der Natur.“An Marias Geburtstag backt sie eine Torte, dazu wird ein Lied gesungen. Ihr siebenjähr­iger Sohn kennt das schon, ist am Geburtstag eines Kindes schließlic­h völlig normal. Barbara Posts Tochter lebt auch dank ihm weiter – sein zweiter Name ist der seiner Schwester.

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FOTO: EMILY SENF Barbara Post am Sternenfel­d auf dem Friedhof in Kempen. Ein Gedenkstei­n erinnert an die Kinder, die als Tot- oder Fehlgeburt­en zur Welt kamen.

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