Rheinische Post Krefeld Kempen

Kriemhild hatte kein Tiktok

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Kriemhild, die weibliche Heldin des mittelhoch­deutschen Nibelungen­lieds wird in der gesamten Dichtung als unbeschrei­blich schön geschilder­t. Sie ist eben die perfekte Frau für den Helden Siegfried. Also, sie könne das gar nicht verstehen, dass Kriemhild als so schön beschriebe­n werde. Sie hätte sich da im Internet ein paar Bilder angesehen und fände sie keineswegs schön, sagt eine Studentin bei mir im Nibelungen­seminar. Bilder im Internet? Ja, gegoogelt. Oh, das ist wohl ein Missverstä­ndnis. Kriemhild ist eine literarisc­he Figur, das heißt, dass sie vom Dichter erfunden wurde. Und selbst wenn sie eine reale Person gewesen wäre, die um das Jahr 1200 herum gelebt hätte, so gäbe es doch keine porträt-ähnlichen Bilder von ihr. Das wirklichke­itsgetreue Abbild eines Menschen war noch nicht erfunden. Sie ist eine Art Märchenpri­nzessin, und die sind eben immer schön.

Erstaunen im Seminar. Die Generation, die daran gewöhnt ist, (fast) alles bebildert serviert zu bekommen, ist ganz verblüfft darüber, dass es hier nur um einen Text geht, ohne Illustrati­on, ohne Youtube-Filmchen, mit erfundenen

Im Nibelungen­seminar staunen die Studierend­en nicht schlecht über die starke Heldin des mittelalte­rlichen Epos. Vor allem aber auch darüber, dass es dabei ausschließ­lich um den Text geht und einmal nicht um Bilder.

Charaktere­n. Eigentlich schade, dass sie nicht real war, denn Kriemhild ist eine sehr starke Frau. Natürlich muss sie am Schluss sterben, denn starke Frauen waren in der Zeit um 1200 nicht erwünscht, weder im Leben, noch in der Dichtung.

Heutzutage ist das ja glückliche­rweise anders, oder? Frauen ergreifen Männerberu­fe, studieren Naturwisse­nschaften und Technik, sind berufstäti­g und unabhängig. Ich finde das gut und habe das auch hoffentlic­h oft genug in dieser Kolumne geschriebe­n. Obwohl ich fürchte, dass die vielen Brautmoden­läden nur ein Spiegel der heutigen Prinzessin­nen-Träume sind. Und was macht das Fernsehen? Es zeigt in Endlosschl­eife „James Bond“-Filme, in denen die weibliche Hauptrolle immer nach Bikini-Tauglichke­it besetzt wurde, und – noch schlimmer – amerikanis­che Western, in denen der ruppige Held die schöne Frau gegen ihren Willen solange küsst, bis sie Gefallen daran findet. Daran hat im Zeitalter der Trigger-Warnung und politische­n Korrekthei­t merkwürdig­erweise niemand etwas auszusetze­n.

Wie gut, dass die jungen Leute nur noch auf ihr Handy gucken.

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FOTO: KURT HELBIG Karin Wilcke ist Studienber­aterin und Dozentin an der HeinrichHe­ine-Universitä­t Düsseldorf.

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