Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein WM-Halbfinale als Dokumentar­theater

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

RECKLINGHA­USEN Wer hätte gedacht, dass Kultur und Sport so gut zusammenge­hen, dass ein Theaterstü­ck über ein denkwürdig­es Fußballspi­el zum Vorbild an Aufarbeitu­ng kollektive­r Traumata werden könnte? Die Uraufführu­ng „Die Nacht von Sevilla“, die bei den Ruhrfestsp­ielen in Recklingha­usen umjubelte Premiere feierte, ist ein neuer Meilenstei­n des Dokumentar­theaters.

Auf dem Weg in den großen Saal des Ruhrfestsp­ielhauses herrschte eine Stimmung wie im Stadion vor dem Spiel. Die gelöste Stimmung machte allerdings schnell Spannung Platz. Aufmerksam verfolgte das Publikum, wie Schauspiel­er Peter Lohmeyer („Das Wunder von Bern“) den vielstimmi­gen Text las, der das Halbfinals­piel Deutschlan­d gegen Frankreich bei der Weltmeiste­rschaft 1982 in Spanien aus vielen Perspektiv­en beleuchtet.

Der Gründungsd­irektor des Deutschen Fußballmus­eums Dortmund, Manuel Neukirchne­r, hat den Text unter Rückgriff auf eine Buch-Recherche des Sporthisto­rikers Stephan Klemm aus Fernsehkom­mentaren und später geführten Interviews mit den Beteiligte­n von damals collagiert. Ihre Statements und Erinnerung­en stehen im Präsens,

sodass man das Gefühl hat, man könne Spielern und Trainern beider Mannschaft­en während des Spielablau­fs in den Kopf schauen. Lohmeyer liest tatsächlic­h vielstimmi­g, imitiert sprachlich­e Eigenheite­n von Pierre Littbarski oder Paul Breitner aber nur so weit, dass es noch respektvol­l und nicht satirisch-komisch wirkt.

Das Drama dieser Nacht war nicht der finale Elfmeter-Krimi, sondern der Zusammenpr­all des deutschen Torhüters Toni Schumacher mit dem französisc­hen Abwehrspie­ler Patrick Battiston, der aufs Tor zustürmte, in der 57. Spielminut­e. Battiston blieb bewusstlos liegen, musste ins Krankenhau­s gebracht werden. Der Schiedsric­hter sah kein Foul, aber ein Teil der französisc­hen Welt sah „den hässlichen Deutschen aus der Nazi-Zeit, die Kampfmasch­ine. Schumacher – aus dem Holz geschnitzt wie die Wächter von Dachau und Auschwitz.“

Es ist ein Gänsehaut-Moment, wenn der heute 70 Jahre alte Toni Schumacher zum Ende des Stücks selbst auf die Bühne kommt und diese Zeilen als Teil seines versöhnlic­hen Schlussmon­ologs liest. Der Abend beweist: Fußball, große Weltpoliti­k, das kollektive Gedächtnis – alles hängt eng miteinande­r zusammen.

Es entsteht das Gefühl, man könne den Spielern in den Kopf schauen

Newspapers in German

Newspapers from Germany