Rheinische Post Krefeld Kempen
„Sommermärchen gibt’s nicht à la carte“
Fußballer stehen in der Nachfolge der antiken Gladiatoren, sagt der Philosoph. Für das dekadent gewordene Europa sei die bevorstehende EM der neue Ernstfall – wie Brot und Spiele in der Antike.
erklären sollen, worum es jenseits der Normal-Langeweile im Frieden doch letztlich geht. Genau das haben die antiken Arenen zustande gebracht: Die Wettkampfstätte war ein geschlossenes Oval, aus dem es ein Entrinnen nur durch den Sieg gab. In den Arenen wurden Schicksalsdramen in realer Zeit aufgeführt, bei denen allein die siegreiche Partei lebend und stehend davonkam.
Gehen wir von der Antike ins Mittelalter – mit dem Blick aufs Publikum: Kann man in Fans auch Jünger sehen, die sich nicht ihren Verein aussuchen, sondern, wie es oft so geheimnisvoll heißt, vom Verein ausgesucht werden? Wie religiös also ist Fußball?
SLOTERDIJK Die Klubs waren anfangs so etwas wie lokalkultische Größen. In manchen südlichen Ländern ist das noch heute so – die Fans von Inter Mailand bekennen sich zum „schwarzblauen Glauben“, alla fede nerazzurra. Anderswo wirkt das Fan-Theater eher hohl. Wenn bei den Bayern außer Thomas Müller kein wirklicher Münchner mehr spielt, dann lösen sich die lokalen Bindungen unvermeidlich auf. Die modernen Super-Mannschaften entfremden sich von ihren heimkultischen Qualitäten, indem sie immer mehr fremde Gladiatoren hinzukaufen. Das Transfergeschäft macht die ganze Sache suspekt, es zersetzt die Beziehung zwischen dem Klub und seiner Stadt. In der Provinz sind manchmal stärkere Identifikationen noch zu spüren – etwa, wenn man sich mit der mentalen Situation des SC Freiburgs beschäftigt – wie ich es als Abonnent der Badischen Zeitung gelegentlich tue.
Wir stehen kurz vor den FußballEuropameisterschaften, dem Turnier eines Kontinents, den sie in Ihren aktuellen Vorlesungen in Paris als einen „Kontinent ohne Eigenschaften“beschreiben. Wird das auch im Fußball sichtbar? SLOTERDIJK. Die europäischen Nationen haben nach 1945 aufgehört, das Imperium Romanum zu imitieren – die Franzosen brauchten zwar etwas länger, um sich von den Kolonien zurückzuziehen, die Portugiesen kurioserweise noch länger, doch es ist geschafft. Man hat in Europa inzwischen die Übertragung der imperialen Funktion über den Atlantik hinweg, die im Ersten Weltkrieg begann und im Kalten Krieg kulminierte, als mehr oder weniger vollendete Tatsache akzeptiert. Der nach 1939 unternommene Versuch der Deutschen, das Imperium in die Alte Welt zurückzuholen, ist missglückt. Ebenso wird der Versuch der
Russen scheitern, Reste des dritten Roms, das nach Osten gewanderte Imperium, für Moskau zu reklamieren. Die Europäer sind endgültig aus dem imperialen Spiel, obschon die Russen sich einbilden, sie seien noch drin, weil sie die Bomben und Gas haben – was dem Bonmot eines USPolitikers
recht zu geben scheint, der meinte, Russland sei nach dem Ende der Sowjets nicht mehr als eine Tankstelle mit Atomwaffen.
Warum aber ist Europa Ihrer Meinung nach endgültig aus dem
Spiel?
SLOTERDIJK Weil die beiden ernsthaftesten Dinge, die früher das menschliche Dasein in der historischen Welt bestimmten – der Krieg und die Fortpflanzung – für Europäer ihre Priorität verloren haben. Wir sind bis auf die Knochen abgerüstet. Zudem zeigt die Bevölkerungsentwicklung eine absteigende Kurve. Die Ehe für alle ist wunderbar liberal, doch dass die Fortpflanzung immer prekärer wird, das schafft Probleme. Die Europäer werden sich künftig expliziter als bisher mit Fragen ihrer Wehrhaftigkeit und ihrer demografischen Stabilisierung auseinandersetzen müssen. Sie haben sich – die Deutschen voran und die kleineren Nationen mit ihnen – lange Zeit mit einer geliehenen Sicherheit zufriedengegeben. Aber Leihgaben haben keine Ewigkeitsgarantie. Kurzum: Europa ist in einer ziemlich dekadenten Position. Die Unterhaltung ist jetzt der neue Ernstfall, so wie es Brot und Spiele in der Antike waren.
Und die im sogenannten alten Rom