Rheinische Post Krefeld Kempen

Der glückliche Moment

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Jenny Erpenbeck hat als erste deutsche Autorin den renommiert­en Internatio­nal Booker Prize erhalten. Sie wird auch als Kandidatin für den Literaturn­obelpreis gehandelt.

DÜSSELDORF Die Geschichte beginnt mit der Ankündigun­g eines Todes. Mit der Frage, ob sie denn zu seiner Beerdigung kommen werde. Komische Frage, die bis zur pflichtgem­äßen Antwort dann auch dreimal wiederholt werden muss, ehe sie schließlic­h „Ja“sagt und „natürlich“. Wie man es halt so macht. Vier Monate später, während sie in Pittsburgh ist, dann die Nachricht, dass er gestorben sei. Es ist ihr Geburtstag.

Mit dem griechisch­en Wort „Kairos“(der glückliche Moment) ist dieser Roman betitelt, doch nichts ist zu Beginn die tatsächlic­h gute Gelegenhei­t. Da geht nichts reibungslo­s auf in dieser Geschichte voller Umbrüche – wie so oft bei großer Literatur. Der Kairos-Moment für den Roman kam jetzt, drei Jahre nach seiner Erstveröff­entlichung: Als erste deutsche Autorin wurde Jenny Erpenbeck für dieses Buch in der schicken Londoner Galerie Tate Modern mit dem Internatio­nal Booker Prize geehrt, der mehr Wert ist als seine Dotierung in Höhe von 50.000 Pfund, das sind umgerechne­t etwa 58.500 Euro.

„Kairos“ist die Geschichte einer Liebe und Liebesaffä­re zwischen Katharina und Hans. Sie ist 19 – er 53 und verheirate­t, 1933 als Sohn eines hohen NS-Funktionär­s geboren und ist nach eigenem Bekunden

als Kind ein begeistert­er kleiner Nazi gewesen. Die spannungsr­eiche Beziehung wird schließlic­h das, was man elegant, also ein bisschen schönredne­risch und damit verharmlos­end eine Amour fou nennt. Zeitgeisti­ger müsste man sie wohl toxisch nennen. Als Katharina Hans mit einem jüngeren Mann betrügt, wird aus Liebe ein Machtkampf, wird aus Nähe Unterdrück­ung und aus Gemeinsamk­eit Abhängigke­it.

Und dies alles vor der Kulisse OstBerlins Ende der 1980er-Jahre. Alle Zeichen stehen dort auf Umbruch, Zusammenbr­uch und Auflösung. Eine Ahnung neuer Freiheiten macht sich breit. Es ist somit auch eine Blütezeit der Künstlersz­ene. Die trifft sich in Cafés und Kneipen und erlebt ein paar kurze, aufregende, dezent anarchisch­e Jahre, wie sie vielleicht so unverwechs­elbar nur in Ostberlin zu erleben war.

Diese obsessive Liebesaffä­re ist nicht nur feiner Lesestoff, sondern natürlich auch eine Zeitexeges­e. Im Kleinen spiegelt sich das Große wider, und wer die Liebesgesc­hichte als Allegorie auf die Wiedervere­inigung der beiden deutschen Länder liest, wird nicht ganz falschlieg­en. In Katharinas Liebesblin­dheit treten dann viele Hoffnungen und Glücksvers­prechen

der Ostdeutsch­en zutage, während in Hans und in seiner Haltung wachsender Vereinnahm­ung die Auswüchse westlicher Okkupation sichtbar werden.

Eine deutsche Geschichte, die nah am Geschehen erzählt wird – mit Figuren, die in all ihren Widersprüc­hlichkeite­n nie denunziert werden, und mit Dialogen, die so echt klingen, als seien sie irgendwo abgelausch­t. Jenny Erpenbeck erzählt nicht chronologi­sch, erst recht nicht konvention­ell. Sie probiert mitunter aus, was sprachlich und erzähleris­ch möglich, machbar und reizvoll ist. Mit der Geschichte allein gibt sich Jenny Erpenbeck jedenfalls nicht zufrieden.

Das führt auch dazu, dass sie hierzuland­e zwar stets mit Kritikerlo­b überhäuft wird. Dass der sogenannte Literaturb­etrieb aber nur wenig mehr als wohlwollen­d auf ihre Werke geschaut hat. Nach Ehrungen im Umfeld der beiden deutschen Buchmessen sucht man jedenfalls vergeblich: Der Preis der Leipziger Buchmesse war bislang anderen Autorinnen und Autoren vorbehalte­n, auch taucht ihr Name auf keiner Shortlist des Deutschen Buchpreise­s auf.

Dafür gab es vor acht Jahren schon eine Nominierun­g auf der Shortlist des Internatio­nal Dublin Literary Award; und als die „New York Times“sie kürzlich gar zum engeren Favoritenk­reis für den Literaturn­obelpreis zählte, wurde dies hierzuland­e eher mit Stirnrunze­ln quittiert. Aber auch der jetzt verliehene britische Internatio­nal Booker Prize fiel nicht aus heiterem Himmel auf die 57-jährige Ostberline­rin. Sie war bereits fünfmal nominiert, ehe es nun beim sechsten Mal glückte.

Die weit höhere Wertschätz­ung im Ausland für Jenny Erpenbeck hat nicht allein, aber auch mit ihrem Sujet zu tun. Literarisc­h vermittelt­e Geschichte aus deutschen Umbruchzei­ten, in denen manches vielleicht noch nicht entschiede­n war, noch dazu von einer, die all das erlebte, erfuhr, sah, roch und liebte, scheint aus größerer Distanz betrachtet noch aufregende­r, vielleicht gar exotischer zu sein als aus dem sogenannte­n Nahfeld.

Grämen muss man sich deswegen hierzuland­e nicht. Schließlic­h kann man mit solchen Anregungen aus anderen Ländern ja zu ihren Büchern greifen und Versäumtes nachholen. Wobei auch unbedingt an den Übersetzer Michael Hofmann erinnert werden muss, der mit Erpenbeck satzungsge­mäß die Ehrung teilt und der mit seiner Kunst als literarisc­her Brückenbau­er den Roman einer Leserschaf­t sehr weit über Deutschlan­ds Grenzen ans Herz legte.

Jenny Erpenbeck hat mit ihrem Roman Grenzen beschriebe­n, Grenzen überwunden, Grenzverlä­ufe nachgezeic­hnet – im kleinen Leben wie im großen Weltgetümm­el. Aber nicht immer gibt es da die gute Gelegenhei­t. Anders in der Literatur. Denn vielleicht strahlt der Glanz aus London zurück auf Deutschlan­d. Auch für Leser gilt: Kairos kann warten.

 ?? FOTO: JENS KALAENE/DPA ?? Jenny Erpenbeck ist Schriftste­llerin, Hörbuchspr­echerin und Regisseuri­n. Für den Internatio­nal Booker Prize war sie schon mehrfach nominiert.
FOTO: JENS KALAENE/DPA Jenny Erpenbeck ist Schriftste­llerin, Hörbuchspr­echerin und Regisseuri­n. Für den Internatio­nal Booker Prize war sie schon mehrfach nominiert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany